Silberband 101 - Eiswind der Zeit
Einsamkeit. Er kauerte in seinem Sessel, hielt ein Glas mit Alkohol in den Fingern und stierte blicklos vor sich hin.
Vielleicht hätte ihm sein Vater helfen können – er kannte nicht einmal dessen Namen. Seine Mutter hätte sicher die richtigen Worte und Erklärungen gehabt, aber sie war tot. Voin Koyle hasste ihn, weil er glaubte, dass Borl auf seine Schwester Meralda Einfluss hatte.
Meralda?
Seit der schweigenden Erkenntnis der letzten Nacht gab es auch zwischen ihnen kaum mehr eine Gemeinsamkeit. Ihre Wege, die jahrelang nebeneinander verlaufen waren, führten mit einem Mal in verschiedene Richtungen. Es gab in der Siedlung keine andere junge Frau, die ihn interessierte, den meisten war er ohnehin suspekt, vielleicht sogar unbegreiflich.
Irgendwann, in der Zeit zwischen Mittag und Abend – er sah nicht auf die Uhr –, hörte Hytawath Borl undeutlich die Ansprache, die Donar Welz außerhalb des Schiffes hielt. Er kümmerte sich nicht darum, merkte nur, dass sich eine ziemlich große Menschenmenge nach der erregten Auseinandersetzung wieder verlief.
Irgendwann schlief er ein und hatte schweißtreibende Albträume.
Etwas weckte ihn. Er öffnete die Augen und blinzelte. Schwach hoben sich die Umrisse einer schlanken Gestalt vor ihm gegen die hellen Wände ab.
Eine Hand presste sich auf seinen Mund, als er auffahren wollte. »Ich bin es, Meralda. Zieh dich sofort an. Sie wollen dich umbringen«, sagte sie leise, aber in unmissverständlicher Schärfe.
Eine aberwitzige Vision packte ihn: Fackeln, schimmernde Strahler, eine skandierende Meute, angeführt von dem schmächtigen Donar Welz.
»Schnell!«, flüsterte Meralda. »Voin und ich haben versucht, sie zurückzuhalten, aber sie rotten sich zusammen. Geh zu Rrussu, bis sich alles abgekühlt hat. Ein Freund hat Ausrüstung am Zaun deponiert.«
»Das meinst du nicht im Ernst«, raunte er zurück. Es war aus. Hysterie und Wahnsinn, entstanden in der Zwangslage der kleinen Siedlung, hatten über den letzten Rest Vernunft gesiegt. Auf ihn konzentrierten sich die Ängste der rund dreitausend Menschen.
»Doch. Voin steht nahe der Rampe und hält sie mit der Waffe auf. Cherkel hilft ihm. Aber beide werden zurückweichen müssen.«
Borls Kaltblütigkeit behielt die Oberhand. Er rechnete damit, zumindest sehr lange Zeit bei dem einzigen Freund verbringen zu müssen, den es noch gab, bei Rrussu. Hy zog sich an und steckte alle greifbaren Ausrüstungsgegenstände ein.
»Voin und Cherkel?«
»Ja. Beeil dich! Verstehst du nicht? Sie wollen deine Kabine stürmen und dich lynchen. Du musst verschwinden!«
»Jetzt durch den Ring der Gewalt? Das wird selbst mich umbringen.«
»Dass dich der hysterische Mob umbringt, ist sicher. Dass dich der Ring der Gewalt umbringt, ist nicht sicher. Erkennst du, wo die echten Chancen liegen?«
»Welch eine Welt …«
»Es ist auch deine Welt. Das Leben ist hart, mein Freund.«
»Und die Wahrheit ist böse.« Borl fand noch eine Sonnenbrille mit zerkratzten Gläsern und schob sie in die Brusttasche. »In Zukunft werdet ihr auf Frischfleisch und Obst verzichten müssen, Meralda. Tut mir leid.«
Ihre Stimme klirrte plötzlich wie Eis: »Ich kenne nur dreitausend Menschen. Aber von allen bist du wohl der Merkwürdigste.«
»Dabei wollen wir es bewenden lassen«, sagte er tonlos und stand bereits neben dem Schott. »Bringst du mich zum Ausgang?«
Hytawath Borl schaltete sämtliche Einheiten der Raumbeleuchtung ein und blickte Meralda an, als sähe er sie zum ersten Mal. Mit Schwung öffnete er die Tür und huschte in den Schiffskorridor hinaus. Undeutlich hörte er Schüsse und Schreie und blieb stehen. In einem Winkel seiner Überlegungen keimte der Gedanke, dass er hier und heute erwachsen wurde.
»Ich sage nicht Auf Wiedersehen. Aber ich wünsche dir alles Gute, Meralda.«
»Danke. Hörst du, wie sie schreien?«
»Es bedeutet nichts.« Borl rannte den Korridor entlang, ohne sich darum zu kümmern, ob Meralda ihm folgte. Er warf sich in den Abwärtsschacht und landete im Polschleusenraum. Der Lärm wurde lauter und drängender, aber noch war niemand in der Nähe.
Hytawath Borl handelte schnell und emotionslos wie immer. Ein Spurt trug ihn die Rampe hinunter, in den Schatten zwischen Flachbauten und schütteren Gewächsen und in die Nähe des Zaunes, dorthin, wo die kalkweißen Kegel der Scheinwerfer nicht hinreichten.
»Verfluchter Planet«, flüsterte er, während er im Zickzack weiterlief und darauf achtete, nicht
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