Silberband 105 - Orkan im Hyperraum
musste noch deutlich tiefer sein. Immerhin war das, was wie der Boden aussah, noch die Oberfläche des Meteoriten, der mit Charlemagne zusammengestoßen war.
Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Offenbar war der Asteroid schon in den unteren Trümmerring abgesunken. Das bedeutete nicht nur, dass die Katastrophe schneller als berechnet eintreten würde; es hieß auch, dass wir von nun an ständig mit weiteren Einschlägen leben mussten.
Dalaimoc Rorvic versuchte erneut, seine psionischen Kräfte einzusetzen. Wieder misslang ihm der Versuch. Er hatte sich verausgabt. In dieser Lage, das wusste er aus Erfahrung, konnte ihm entweder sein Amulett helfen – aber das lag in der SOL – oder Tatcher a Hainu.
Zurzeit wusste der Tibeter überhaupt nicht, wo sich der Marsianer aufhielt. Auf Funksignale bekam er keine Antwort – und psionisch vermochte er a Hainu nicht aufzuspüren, weil ihm die Kraft dazu fehlte. Er musste sogar damit rechnen, dass Tatcher bei dem Schwerkrafteinbruch ums Leben gekommen war.
»Max?«, flüsterte Rorvic.
»Ja, Dalaimoc?«, antwortete die Positronik.
»Tatcher ist gar nicht auf einer Geheimmission unterwegs, sondern ich habe ihn ausgebootet, weil ich ihm einiges heimzahlen wollte. Aber ausgerechnet dort, wohin ich Tatcher mit dem Rettungstorpedo schickte, kam es zu einem starken Schwerkrafteinbruch.«
»Dann hast du nicht nur gegen Gesetze verstoßen, sondern auch gegen die menschliche Ethik und zahlreiche moralische Spielregeln.«
»Ich weiß«, sagte Rorvic zerknirscht. »Ich würde gern alles rückgängig …«
»Was geschehen ist, ist geschehen, Dalaimoc! Du kannst nur versuchen, Wiedergutmachung zu üben.«
»Widersprich mir nicht!« Der Tibeter schlug mit der Faust auf die Konsole. »Ich bin schließlich der Herr – und du bist der Diener.«
Als keine Reaktion erfolgte, fragte Rorvic: »Ist das klar, Max?«
Auch diesmal reagierte die Positronik nicht. Rorvic zog seinen Impulsstrahler und hämmerte damit auf die Kontrollen ein.
»Aufhören, Dalaimoc!«, rief Max.
Rorvic stieß ein wütendes Lachen aus. »Jetzt ist es dir hoffentlich klar, Max! Du bist nur eine Maschine – und ich bin dein Herr!«
So abrupt, wie ihn die Wut überschwemmt hatte, entließ sie ihn wieder aus ihrem Griff. Rorvic stand sekundenlang reglos vor den Kontrollen, ließ den Strahler fallen, warf sich in seinen Kontursessel und schlug die Hände vors Gesicht.
Als er eine Hand auf seiner linken Schulter spürte, erstarrte er. Dann fuhr er mit einem gellenden Schrei hoch und wich in die einzige Richtung aus, in die er ausweichen konnte, zum Kontrollpult. Zugleich drehte er sich um – und mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf das gefiederte Lebewesen, das geduckt links neben dem Kontursessel stand, zwei gelb glühende Nebellampen im breitschnäbeligen Gesicht, die vom Ellenbogen des rechten Flügels abgestreckte Klauenhand noch in der Luft über der Stelle, an der vor Sekunden Rorvics linke Schulter gewesen war.
Der Tibeter war zu Tode erschrocken, weil er so abrupt aus dem Zustand der Reue und Zerknirschung gerissen worden war. Er holte tief Luft.
»Kannst du mich verstehen?«, fragte er gleich darauf.
Der breite Schnabel klickte. »Ich verstehe dich gut, Dalaimoc Rorvic. Wenn du einen Namen für mich brauchst, nenne mich einfach Braboch.«
»Braboch …«, wiederholte Rorvic. Er musterte die Gestalt gründlicher und verstandesmäßig abwägend. Sie war fast so groß wie er, wirkte sehr kräftig, war unbekleidet und stand auf zwei gefiederten Beinen, die in unglaublich großen und kräftigen Klauen endeten. »Angenommen, du bist keine Halluzination meiner möglicherweise verwirrten Sinne, wie kommst du dann in dieses Raumschiff?«
Brabochs Augen leuchteten stärker – wie zwei aufgeblendete Scheinwerfer. Mit einer seltsam erdigen Stimme sang er:
»Wie die Gedanken
durchdringen die Schranken,
schweben die Rayhen
durch luftlose Waihen.«
»Interessant!« Der Tibeter verschränkte die Arme vor der Brust. »Lass dir einen besseren Trick einfallen, Tatcher!«
Braboch hob die Schwingen an und stieß sie vor. Seine rechte Klauenhand umfasste blitzschnell den rechten Oberarm Rorvics – und ebenso schnell bohrten sich die Fänge ins Fleisch des Tibeters.
Bevor der Halbcyno reagieren konnte, hatte das Federwesen die Klauenhand schon wieder zurückgezogen. Nur die hochgereckten und leicht vorgestreckten Schwingen hingen gleich schweren Brokatvorhängen in der Luft.
Rorvics Lippen
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