Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
Zeit, dass er in seinen Kontrollraum kam.
Wenige Meter unter ihm stießen zwei Ertruser zusammen. Sie lachten.
»Hast du schon gehört, Kreitu, die Siganesen sollen heute Nacht im Stechschritt durch die Chateaubriand Avenue marschiert sein und dadurch das Beben verursacht haben.«
Kreitu brüllte vor Heiterkeit.
Tramton Kalackai lächelte tolerant. Er war weniger für diese lautstarken Gefühlsäußerungen, aber auch für ihn war das Siganesenthema stets eine Quelle der Erheiterung.
Seit Nagelia erbaut war, ging das Gerücht um, auf Zaltertepe oder gar in der Stadt selbst hätten Siganesen heimlich eine Subkolonie gegründet und schmarotzten seitdem von den Werten der Ertruser.
Selbstverständlich war sich Tramton über die Unhaltbarkeit dieses Gerüchts im Klaren. Aber im Lauf der Jahre war aus dem Gerücht so etwas wie ein Aberglaube geworden. Manche Ertruser waren sich nicht mehr sicher, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit hinter den Geschichten über den siganesischen ›Untergrund‹ steckte.
Einmal hatte es sogar eine militärische Suchaktion nach der ›siganesischen Subkolonie‹ gegeben. Selbstverständlich war diese Aktion ein Schlag ins Wasser gewesen. Nicht einmal die Fußspur eines Siganesen hatte sich finden lassen.
Bagno Cavarett schaltete den Rasierapparat aus, mit dem er die Stoppeln von seinem Schädel entfernt hatte. In der nächsten Sekunde saß er auf dem Fußboden.
Es dauerte eine Weile, bis der Prellungsschmerz nachließ und Bagnos Augen nicht mehr tränten. Er registrierte weitere Erschütterungen. Doch keine war stärker als die bisherigen Beben – und von denen konnte keine den Baum gefährden, der als lebendes Naturprodukt widerstandsfähiger war als Menschenwerk.
Seine jüngste Tochter Tarantella wirbelte ins Bad. »Hast du das Beben gespürt?«, fragte die Zwölfjährige.
Bagnos Gesicht wurde dunkelgrün. »Tarantella, du weißt sicher, dass das hier mein Badezimmer ist, oder?«
»Aber ja!«, rief Tarantella.
»Und dass ein persönliches Badezimmer zur Intimsphäre einer Person gehört, weißt du bestimmt auch, Schatz?«
»Aber ja!«, sagte Tarantella unbekümmert. »Ich sehe sogar, dass du unter deinem Bademantel nur den Schlafanzug trägst.«
»Kind!«, rief Bagno entsetzt. »Das Wort, das du als vorletztes benutzt hast, spricht der gebildete Siganese nicht aus!«
Tarantella kicherte. »Onkel Vavo hat immer gesagt, wo es Zwieback gibt, da sind im Bett auch Krümel, aber nicht immer sind Krümel schuld daran, wenn es dich juckt. Es soll da beispielsweise Tiere …«
Cavarett schlug mit der flachen Hand dezent auf den Fußboden.
»Ich flehe dich herzlich an, mein Kind, niemals mehr die unsittlichen Ausdrücke deines verdorbenen Onkels zu gebrauchen«, sagte er energisch. »Dieser Vavo Rassa ist ein Unhold. Man sagt von ihm, er habe der minderjährigen Erlja Drugna zugeblinzelt.«
»Aber Erlja ist schon siebenundneunzig!«, protestierte Tarantella.
»Damals war sie noch minderjährig!«
»Wer ist minderjährig?«, klang die Stimme von Bagnos Ehefrau durch die offene Tür.
»Oh, Mymai!«, rief Bagno. »Bitte erspare mir das Aufrollen eines beschämenden Themas! Unsere liebe Tochter hat die Taktlosigkeit begangen, in mein Badezimmer zu kommen.«
»Entschuldige, Papi!« Tarantella drehte sich um und eilte hinaus.
Zufrieden massierte sich Bagno seinen Kahlkopf und zog sich an. Danach begab er sich ins Wohnzimmer, wo schon alle anderen Familienmitglieder warteten. Außer Mymai und Tarantella seine beiden Söhne, der fünfundachtzigjährige Blues und der zweiundsiebzigjährige Tango. Beide Jungen waren, obwohl sie nur ein Jahrzehnt beziehungsweise gut das Doppelte von der Volljährigkeit trennte, erheblich kleiner als ihre Eltern. Manchmal fragte sich Bagno, wie viele Generationen die Verkleinerung noch weitergehen würde. Früher sollten Siganesen bis zu dreißig Zentimeter groß geworden sein; heute betrug die Durchschnittsgröße 76,49 Millimeter. Bagno Cavarett war relativ groß, nämlich exakt 81,49 Millimeter.
»Bei den Ertrusern soll es schwere Schäden gegeben haben«, sagte Blues.
»Die Dickköpfe vertragen einiges«, gab Bagno zurück.
Er ging zum Schaukasten des großen Aquariums, das er sich vor vielen Jahren selbst gebaut, bepflanzt und mit Zierbakterien besetzt hatte. In dem neun Kubikzentimeter großen, geheizten und belüfteten Glassitkasten quirlte es vor mikroskopischem Leben.
»Wie arm sind doch die Menschen dran, die so etwas nicht mit bloßem
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