Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
mehr benützt worden waren. Dem Loower fiel auf, was er schon im Land der Blinden bemerkt hatte. Überall war die Bevölkerungsdichte so groß, dass die Zaphooren einander buchstäblich auf die Zehen traten. Hier unten gab es aberwitzig viel ungenutzten Raum. Dass die Zaphooren lieber die qualvolle Enge der Oberfläche ertrugen, als sich in der leeren Tiefe anzusiedeln, musste mit ihrem eingefleischten Aberglauben zusammenhängen.
Tantha verließ als Erster die untere Schachtmündung. Pankha-Skrin beobachtete, wie sich der Humpelnde vorsichtig umsah.
»Warst du schon oft hier unten?«
»Ein Dutzend Mal oder so«, antwortete Tantha.
»Was führt dich hierher?«
»Die Suche. Ich habe viele Freunde. Auf meinen Wanderungen besuche ich sie. Manchmal treffe ich einen nicht an. Wenn mir aber die Leute sagen, dass sie einen meiner Freunde seit Wochen oder länger nicht mehr gesehen haben, dann liegt die Vermutung nahe, dass der Betreffende der Versuchung der Hölle erlegen und hier herabgestiegen ist. Gewöhnlich sehe ich dann hier unten nach, sobald sich eine Gelegenheit ergibt. Schon oft habe ich einen meiner Freunde unter den Opfern gefunden, die sich vor den Pforten häufen.«
Er deutete nach rechts in den Gang hinein.
»Bist du jemals hier unten einem lebenden Wesen begegnet?«, wollte Pankha-Skrin wissen.
»Noch nicht. Aber da dort drinnen Hunderte von Leblosen liegen, geschieht es offenbar recht oft, dass sich jemand hierher verirrt.«
Der Quellmeister war ebenfalls aus dem Schacht getreten. Zur linken Hand zog sich ein matt erleuchteter Gang etwa fünfzig Meter weit, bevor er abknickte. Zur Rechten war schon nach wenigen Metern eine schwere Metalltür.
»Ist das die Pforte?«
»Nein.« Tantha lächelte. »Das ist eine gewöhnliche Tür. Wir werden sie offen lassen für den Fall, dass wir die Flucht ergreifen müssen.«
Die Tür besaß zwei Hälften, aber keinen Riegel. Beide Flügel trafen derart passgenau zusammen, dass kaum eine Rille zu sehen war. Tantha lehnte sich mit der Schulter gegen den rechten Türflügel und begann zu schieben. Widerwillig wich das schwere Metall nach innen zurück. Ein Ton entstand, als habe in weiter Ferne jemand einen riesigen Gong angeschlagen.
Hinter der Tür setzte der Gang sich fort. Er reichte weiter, als der Loower zu sehen vermochte.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Pankha-Skrin.
»Das ist der Duft des Todes«, antwortete Tantha düster. »Die Luft hier unten ist so trocken, dass die Unglückseligen nicht verwesen. Sie schrumpfen und werden zu Mumien. Das ist, was du riechst.«
Für den Quellmeister hatte der Tod keinen Schrecken. Die Entelechie lehrte, dass der Tod etwas Unausweichliches sei. Dann allerdings gab es keinen Anlass, ihn zu fürchten.
Pankha-Skrin wusste indes, dass Intelligenzen mit monoiden Bewusstseinen, also wahrscheinlich auch die Zaphooren, den Tod anders sahen und Angst vor ihm empfanden.
Tantha hielt nicht inne, bevor er den rechten Türflügel ganz an die Wand des Ganges geschoben hatte. »Jetzt ist unser Rückweg offen«, sagte er.
Sie schritten den Korridor entlang. Mehrmals zweigten Seitengänge ab.
»Ich weiß nicht, wohin sie führen«, beantwortete Tantha eine Frage des Quellmeisters. »Du magst mich für einen tapferen Gesellen halten. Aber in Wirklichkeit tue ich hier unten keinen unnötigen Schritt.«
Nach geraumer Zeit mündete der Gang in eine mächtige Halle. Ihre Decke wölbte sich kuppelförmig bis zu fünfzig Metern empor. Mildes Licht fiel aus Leuchtflächen in der Decke. Am jenseitigen Ende des Raumes bemerkte Pankha-Skrin zwei hohe Pforten. Das mussten die Tore sein, die nach dem Glauben der Zaphooren zur Hölle führten.
Reglose Gestalten bedeckten den Boden. Das waren die Unglücklichen, denen die Wissbegierde keine Ruhe gelassen hatte. Pankha-Skrin überflog die Szene, die einem anderen grausig erschienen wäre, mit wissenschaftlichem Interesse. An den verschiedenen Stadien der Mumifizierung konnte er abschätzen, wie lange der Fluch bereits bestand, der von den unheimlichen Mächten jenseits der beiden Pforten ausging, es waren gewiss Jahrtausende. Aber bis in die Tage, da Murcon noch Herr seiner Burg gewesen war, reichten die Spuren keinesfalls zurück.
Das gab dem Quellmeister zu denken. Was war, lange nachdem Murcon seine Burg an die zudringlichen Gäste verloren hatte, geschehen, das diesen Ort zum Vorhof der Hölle machte?
Es fiel Pankha-Skrin auf, dass die reglosen Körper sich vor der rechten
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