Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
kannst du gerne einen Bissen von mir abhaben.«
»Wie lange ist es noch bis zur großen Opferfeier?«, erkundigte sich Tantha.
»Noch zwei Proben, hat Verdantor gesagt. Das bedeutet zwei Tage.«
»Ich werde sehr genau aufpassen müssen«, beklagte sich der Humpelnde. »Der Rauch hat mich so verwirrt, dass ich kaum mehr weiß, wo die wirkliche Opferhalle ist.«
»Wer könnte sie je vergessen! Erinnerst du dich nicht mehr, wie das Unge… die Gottheit auf uns zustieß und uns alle zu verschlingen drohte?«
Der Humpelnde Tantha schlug die Hände vors Gesicht. »Nie! Nie werde ich das vergessen!«, rief er. »Aber ich weiß nicht mehr, wo es geschah.«
»Darüber mach dir keine Sorgen. Wenn der Aufruf kommt, musst du nur uns anderen folgen. Aber wahrscheinlich hast du bis dahin deine Erinnerung längst zurück. Um in die große Opferhalle zu gelangen, musst du durch den mittleren Stollen gehen, an der Wohnung des Oberpriesters vorbei und durch einen Stollen.«
Es pochte an der Tür. Sie wurde von außen geöffnet. Ein vermummter Priester reichte eine Schüssel mit dampfendem Inhalt herein, dazu ein tönernes Gefäß voll Wasser. Er machte keine Bemerkung darüber, dass sich zwei Leute in der Zelle aufhielten, sondern stellte die Behälter auf den Boden und schloss die Tür.
»Greif zu!«, forderte der Priesteranwärter seinen Gast auf. »Ich bin nicht besonders hungrig. Deine Erzählung hat mich aufgeregt, und die Aussicht, dass wir in zwei Tagen wieder eine Opferfeier haben werden, tut für meinen Appetit nicht besonders viel …«
Er hatte sich zuvor versprochen, als er Kukelstuuhr zuerst ein Ungeheuer hatte nennen wollen. Nun gab er zu verstehen, dass ihm der Gedanke an die bevorstehende Opferfeier den Magen umdrehe. Der Humpelnde Tantha konnte sich vorstellen, wie dem Jungen zumute sein musste. Die Männer und Frauen, die den Mut aufgebracht hatten, in die Tiefen des Großen Gasthauses vorzustoßen, und die Klugheit, nicht an einer der Fallen zu sterben, traten keineswegs begeistert in den Dienst des Götzen. Sie waren froh, dass sie Kukelstuuhr nicht zum Opfer gefallen waren, und sahen den Priesterdienst als ihre einzige Überlebenschance an.
Der Humpelnde Tantha zog die Schüssel zu sich heran und führte den Brei mit den Fingern zum Mund. Gut schmeckte das Zeug nicht. Von den Früchten aus der Pflanzung war ohnehin keine Spur. Aber wenigstens hörte Tanthas Magen zu knurren auf.
Er aß nur, um den ärgsten Hunger zu stillen. Dann nahm er noch einen Schluck aus dem Tonkrug. Er wollte sich gerade bei seinem Gastgeber bedanken, da war von fern ein Donnern zu vernehmen, das die Wände und den Boden beben ließ.
»Was ist das?«, fragte der Humpelnde Tantha entsetzt.
»Das hast du auch vergessen?«, antwortete der Jüngere. »Die Gottheit lässt sich hören! Sie verkündet uns, dass sie auf das nächste Opfer wartet!«
Auf der Oberwelt hielten die Kämpfe zwischen den Interessengemeinschaften der Zaphooren an. Für die Geister der Vergangenheit war dies eine Zeit des Überflusses.
Ihnen war unbekannt, mit welchen technischen Mitteln Murcon sie ihres Körpers beraubt und ihre Bewusstseine in eine substanzlose, aber energetisch stabile Form überführt hatte. Sie wussten nur, dass sie verdammt waren, bis in alle Ewigkeit wesenlos die Gänge und Hallen der Burg zu durchstreifen. Mancher von ihnen hatte im Lauf der Jahrtausende den Entschluss gefasst, sich einfach zurückzuziehen und aller Nahrung zu entsagen, bis der Tod ihn ereilte. Jeder hatte feststellen müssen, dass sich dieser Entschluss nicht ausführen ließ. Der Mangel an geistiger Nahrung erzeugte mit der Zeit einen Suchteffekt, dem die Bewusstseine der ehemaligen Freibeuter nicht gewachsen waren. Sie gingen von Neuem auf die Jagd.
Einer von ihnen hatte den Nahrungsverzicht mehrmals versucht. Aber jedes Mal hatte Arqualov wie ein Süchtiger wieder nach Nahrung suchen müssen. Er hatte sich geschworen, eines Tages einen Ausweg aus dieser würdelosen Lage zu finden und dem niederträchtigen Murcon dessen Rache heimzuzahlen.
In diesen Tagen hielt Arqualov die Zeit für gekommen. Er rief seine ehemaligen Gefolgsleute zu einer Besprechung zusammen. Denn in letzter Zeit gab es so viel Nahrung, dass sie nicht mehr wie früher den größten Teil ihrer Zeit mit der Suche danach verbringen mussten. Langeweile machte sich bemerkbar.
Sie trafen sich in einer seit ewiger Zeit nicht mehr benutzten, in der Tiefe liegenden Halle. Kein Zuhörer hätte nur ein
Weitere Kostenlose Bücher