Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
lohnenswert sei, noch weiter vorzudringen. Er hatte nie ein Tier gesehen, und er kannte die Ausdünstung nicht, die besonders große Tiere von sich gaben. Aber er ahnte, dass sich im Hintergrund der Dunkelheit ein ungeheuerliches Etwas befinden müsse, ein Monstrum. Wahrscheinlich, schloss er, war es der Götze Kukelstuuhr.
Augenblicke später vernahm er ein dumpfes Rumoren. Schnell schwoll es zu lautem Donnergrollen an. Der Boden zitterte, Gesteinsstaub rieselte in Fontänen von den Wänden.
Der Humpelnde Tantha war so entsetzt, dass er sich neben dem Stollenausgang zu Boden warf. Er entsann sich, dass er dasselbe Geräusch schon gehört hatte – nur schwächer. Der junge Priesteranwärter hatte sich über seine fehlende Erinnerung gewundert. Es war die Stimme des Götzen. Kukelstuuhr ließ die Welt wissen, dass Opfer fällig waren.
Er richtete sich wieder auf. Da die Wohnung des Oberpriesters in dieser Halle lag, war nicht anzunehmen, dass das Ungeheuer bis hierher vordringen könne. Ihm drohte also keine Gefahr. Doch als das Gebrüll schließlich abebbte, da wusste der Humpelnde Tantha, dass er für ein weiteres Vordringen nicht die Nerven hatte.
Was am anderen Ende des Stollens lag, war ohnehin kein Geheimnis mehr. Es war die große Arena, in der die Opferfeier stattfand – das Original, dem jene Halle nachgebildet war, in der er zusammen mit den Priesteranwärtern die Gesänge geübt hatte. Und wiederum auf der gegenüberliegenden Seite jener Arena befand sich ›das Murcon‹, der Eingang zu dem Ort, an der sich der Götze Kukelstuuhr aufhielt, wenn er nicht zu einer Opferfeier in der Arena erschien.
Der Humpelnde Tantha machte sich auf den Rückweg. Ohne Zwischenfall erreichte er das goldene Tor, dessen kaum mannshohe Eintrittsklappe er behutsam hinter sich schloss. Auf dem Weg zu seiner Zelle begegnete er keinem, und in der Zelle lag Hajlik noch in tiefem Schlaf.
Tantha fragte sich, ob er Pankha-Skrin aufsuchen solle. Aber bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, war er eingeschlafen.
15.
Am nächsten Tag – die Götzendiener zählten ihre Tage nach den Pausen der Ruhe – nahm der Humpelnde Tantha mit den übrigen Priesteranwärtern wieder an einer Übung in der Modellarena teil. Diesmal kannte er die Prozedur, und es bestand keine Gefahr, dass er sich verriet.
Der Humpelnde wartete ungeduldig auf die erste Möglichkeit, sich mit Pankha-Skrin in Verbindung zu setzen. Hajlik war längst wieder erwacht, sie hatte die Nachwirkung des Schocks weitgehend überwunden. Tantha unterhielt sich ausgiebig mit ihr, nachdem er wie am Vortag zu der gemeinsamen Unterkunft zurückgekehrt war, aber er erfuhr nichts Neues.
Er überlegte, ob er wieder den jungen Priesteranwärter aufsuchen solle, da vernahm er abermals auf dem Gang aufgeregte Stimmen und hastige Schritte. Tantha, dessen Wohl davon abhing, dass er jederzeit über alles informiert war, sah wieder die Priesteranwärter in die Halle eilen. Er schloss sich ihnen an und erfuhr, dass ein neues Opfer gebracht worden war.
In der Halle sah er, dass der Tolle Vollei den Götzendienern in die Hände gefallen war. Vollei sträubte sich und versuchte auszubrechen.
»Ich habe mit euch nichts zu schaffen!«, schrie er. »Ich will den Gastwirt! Gebt ihn heraus und lasst mich mit ihm ziehen, dann werdet ihr mich nie wieder zu Gesicht bekommen.«
Das sah ihm ähnlich, stellte Tantha grimmig fest. An Hajlik dachte er überhaupt nicht.
Inzwischen war Verdantor zu den Priestern gekommen, die Mühe hatten, den tobenden Vollei festzuhalten.
»Wir wissen nichts von einem Gastwirt«, erklärte der Breitschultrige. »Wer soll das sein?«
»Ein Fremder, der abenteuerlich aussieht!«, schrie Vollei. »Er hat keinen Schädel und um den Oberkörper eine Art Umhang …«
»Den haben wir allerdings. Er wird dasselbe Schicksal erleiden wie du!«
»Was ist das?«
»Ihr werdet der Gottheit geopfert!«
Vollei maß den Priester mit irrem Blick. Seine Bewacher hatten ihm beide Arme nach hinten gebogen. Das Haar hing dem Freidenker wirr ins Gesicht, und da er von seinen Peinigern loskommen wollte, stand er nach vorne gebeugt und sah Verdantor von unten herauf an.
»Der Gottheit geopfert?«, antwortete er fast tonlos.
Und dann geschah es. »Oh nein!«, schrie Vollei. Er warf sich rückwärts, und damit hatten die Priester nicht gerechnet. Sie wichen auseinander, lockerten ihren Griff. Vollei kam frei. Er stürzte zwar, vom eigenen Schwung getragen, aber schon im
Weitere Kostenlose Bücher