Silberband 107 - Murcons Vermächtnis
in dem die Priesteranwärter auf den Beginn des Unterrichts warteten. Auf dem ganzen Weg sah sich der Breitschultrige nicht ein einziges Mal nach dem Humpelnden Tantha um.
Die Einrichtung des Raumes war eigenartig. An den Rändern des Ovals stieg der Boden zu den Wänden hin ziemlich steil an. Auf halber Höhe der Steilung befand sich eine Art Barrikade, die das Oval umzog und nur zwei Lücken ließ. Dort, wo der Humpelnde Tantha mit seinem Führer den Raum betreten hatte, und auf der Seite gegenüber, wo sich eine hohe, finstere Öffnung befand. Nahe dieser Öffnung stießen die Enden der Barrikade zu beiden Seiten an die Wand des Raumes.
Die Priesteranwärter hielten sich in der Mitte des Raumes auf. Als Tanthas Begleiter sich ihnen näherte, verbeugten sie sich ehrfurchtsvoll. Der Humpelnde stellte mit großer Erleichterung fest, dass es sich um mehr als dreißig Männer und Frauen handelte, also weitaus mehr als die dreizehn, von denen er gehört hatte, dass sie bei der letzten Opferfeier von Kukelstuuhr verschmäht worden waren. Es dauerte offenbar geraume Zeit, bevor ein Anwärter zum Priester gemacht wurde.
Der Breitschultrige, der, wie Tantha jetzt erfuhr, Verdantor hieß, wandte sich an die Anwärter.
»Ihr wisst, was zu tun ist! Dieser Raum ist der großen Arena in allen Einzelheiten nachgebildet. Durch die Öffnung dort wird die Gottheit den Raum betreten. Sobald sie sich zeigt, beginnt ihr den Gesang der Erhabenheit. Ihr seid hinter der Barriere postiert, damit die Gottheit euch nicht mit den Opfern verwechseln kann. Sobald das erste Opfer gefallen ist, stimmt ihr den Choral des Wohlgelingens an, bis die Gottheit sich zurückzieht. Ihr singt, bis sie nicht mehr zu sehen und nicht mehr zu hören ist. Dann ist die große Opferfeier vorüber, und man wird euch zu Priestern ernennen, wenn ihr während der Feier keinen Fehler begangen habt. Nun geht auf eure Posten!«
Von da an wurde die Situation für den Humpelnden Tantha schwierig. Seine Sorge war nicht, dass er bei der Opferfeier einen Fehler machte und deshalb die Berufung zum Priester versäumte, sondern eher, dass er sich falsch verhielt und erkennen ließ, dass er gar nicht zu der Gruppe gehörte.
Er folgte den vermummten Priesteranwärtern und ahmte jede ihrer Bewegungen nach. Sie schritten zu dem Ausgang, durch den er mit Verdantor die Halle betreten hatte. Dort wandten sich die einen nach links, die andern nach rechts, um die Plätze hinter der Barriere zu besetzen. Verdantor folgte ihren Bewegungen mit großer Aufmerksamkeit, und der Humpelnde Tantha atmete auf, als der Breitschultrige, nachdem sie ihre Positionen eingenommen hatten, mit lauter Stimme verkündete, sie hätten ihre Sache gut gemacht.
Bei dem folgenden Gesang hatte es Tantha nicht allzu schwer. Er bewegte die Lippen, obwohl sein Gesicht unter der weit nach vorne hängenden Kapuze verborgen war, und versuchte im Übrigen, sich die Worte der beiden Gesänge einzuprägen. Das war nicht schwierig, da der Text sich ständig wiederholte. Als Verdantor mit einer Geste andeutete, dass der Götze sich entfernt habe und nicht mehr zu hören sei, da kannte der Humpelnde Tantha sowohl den Gesang der Erhabenheit als auch den Choral des Wohlgelingens auswendig.
»Kehrt in eure Unterkünfte zurück!«, ordnete Verdantor an. »Diese Probe wird noch zweimal stattfinden, dann ist die Zeit der großen Opferfeier gekommen – und damit die Stunde eures Triumphs.«
Die Priesteranwärter kamen hinter der Barriere hervor und verließen den Raum durch den Gang, den der Humpelnde Tantha und Verdantor auf dem Herweg benützt hatten. Nacheinander öffneten sie jeweils zur Rechten und zur Linken eine Tür, und durch jede der Türen verschwand einer der Anwärter. Tantha sah sich gezwungen, bis zuletzt zu warten. Offenbar wusste jeder Priesteranwärter genau, wohin er gehörte. Tantha konnte es sich nicht leisten, eine Tür zu öffnen, die einem anderen zustand.
Verdantor war in der Halle zurückgeblieben. Der Humpelnde Tantha fühlte sich, nachdem der letzte Priesteranwärter verschwunden war, einigermaßen sicher. Da der letzte seiner Begleiter eine Tür auf der linken Seite gewählt hatte, entschied er sich für die rechte. Er öffnete die nächste Tür, die ihm in den Weg kam, und betrat einen finsteren, kleinen Raum.
Bevor er die Tür hinter sich zuschlug, gewahrte er die Gestalt, die an der rückwärtigen Wand kauerte. Es war eine junge Frau, die ihn aus großen Augen teilnahmslos anblickte.
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