Silberband 108 - Grenze im Nichts
angelangt«, meldete Tochter Suys. »Sollen wir mit der Untersuchung beginnen?«
›Suys‹ bedeutete in der Sprache des Bauarbeiters so viel wie ›die Achte‹. Cerveraux hatte seine Tochter Systeme in der Reihenfolge ihres Entstehens mit Zahlennamen versehen.
»Ist er paralysiert?«
»Ja«, antwortete Suys. »In wenigen Augenblicken können wir Bilder aus dem zweiten Turm empfangen, dann kannst du dich vom Zustand des Fremden überzeugen.«
»Was mich momentan mehr interessiert, ist das Aussehen dieses Wesens. Vielleicht kann ich daraus auf seine Herkunft schließen.«
Diese Äußerung spiegelte etwas von der wilden Hoffnung wider, der Fremde könnte ein Mitglied von Cerveraux' Volk sein. Vielleicht hatte man ihn nach unendlich langer Zeit gefunden. Zweifellos war er damals vermisst worden. Es gehörte zu den Eigenarten von Cerveraux' Artgenossen, dass eine Bestrafung unter allen Umständen durchgeführt werden musste. Wie viel Zeit auch verstrichen sein mochte, das Urteil gegen einen Verbrecher besaß Gültigkeit, bis es vollstreckt war.
Während Cerveraux auf die Bilder wartete, fragte er sich, ob man ihn überhaupt noch identifizieren konnte. Außer seinem Namen besaß er nichts mehr, was an die Vergangenheit erinnert hätte.
Die Bildflächen an der Wand erhellten sich. Cerveraux konnte auf diese Weise in den oberen Raum des zweiten Turms blicken. Der Fremde lag auf dem Boden. Obwohl er in einem Raumanzug steckte, erkannte Cerveraux sofort, dass es sich nicht um ein Mitglied seines Volkes handelte – nicht einmal um einen entfernten Verwandten. Er empfand Enttäuschung, aber zugleich auch Erleichterung.
»Ihr könnt mit der Untersuchung beginnen«, ordnete er an. »Dabei müsst ihr mit äußerster Behutsamkeit vorgehen. Auf keinen Fall darf diesem Wesen etwas geschehen. Er soll schließlich in Zukunft als mein Unterhalter fungieren.«
Ihm kam in den Sinn, seine Ableger könnten eifersüchtig reagieren und dem Gefangenen heimlich Schaden zufügen, aber dazu waren sie ihm wahrscheinlich zu treu ergeben. Bisher hatte er nicht viel über das Gefühlsleben seiner Tochtersysteme herausgefunden. Gewiss, er hätte sie danach fragen können, aber darauf hatte er stets verzichtet. Eine derartige Befragung wäre ihm äußerst peinlich erschienen.
Er konzentrierte sich auf das, was im nächsten Turm vorging. Die Diener hatten mit der Untersuchung des Fremden begonnen. Zu diesem Zweck hatten sie Klappen in ihren Kapseln geöffnet und ihre tentakelförmigen Extremitäten herausgeschoben. Damit betasteten sie den länglichen Körper des Gefangenen.
Hoffentlich stirbt das Wesen nicht vor Furcht!, dachte Cerveraux.
Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als ein Tochtersystem hereinkam, das zu den Patrouillen gehörte. Cerveraux hatte ständig einen Verband von Ablegern innerhalb und außerhalb der Station als Beobachter im Einsatz.
An der Form und der Farbe der Kapsel erkannte er, dass Pouly gekommen war.
»Ein unbekanntes Flugobjekt nähert sich dem Bauwerk«, meldete Pouly.
»Gut.« Cerveraux reagierte mechanisch wie auf jede andere Meldung. Dann erst wurde ihm bewusst, was er da gehört hatte. »Seid ihr sicher?«, stieß er erregt hervor.
»Es bestehen keine Zweifel«, antwortete Pouly.
Cerveraux musste sich zur Ruhe zwingen. »Beobachtet weiter! Ich möchte über jede Veränderung sofort unterrichtet werden, vor allem über den Zeitpunkt einer eventuellen Landung eines fremden Objekts.«
Pouly schwebte wieder hinaus.
Cerveraux war außer sich. Zwischen der Ankunft jenes Wesens, das sich nun in Turm zwei befand, und dem Auftauchen eines unbekannten Raumschiffs musste ein Zusammenhang bestehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der Gleichzeitigkeit beider Ereignisse um einen Zufall handeln könnte, war so gering, dass er sie nicht in Betracht ziehen musste.
Eine Zeit lang war Demeter dem einäugigen Roboter aus dem Weg gegangen, denn sie war sich ihrer Gefühle gegenüber diesem seltsamen Automaten aus weichem Stahl nicht im Klaren. Manchmal glaubte sie, dass sie Laire hasste. Tief aus ihrem Unterbewusstsein schien ein dumpfer Zwang aufzusteigen, ihn zu vernichten. Sie war klug genug, um zu erkennen, dass es sich dabei um verdrängte Rachegefühle handelte. In der Rolle des Alles-Rads hatte der Roboter ihr eigenes Volk, die Wynger, viele Jahrhunderttausende lang manipuliert. Sie, Demeter, war eines der Opfer dieser Manipulation gewesen, denn sie war mit einem Suchschiff zur Erde gelangt und war
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