Silberband 108 - Grenze im Nichts
sondern durch den Temperament-Regulator nutzbar gemacht.«
»Ist Puko ein Tempester?«, fragte Baya.
»Ein Halbjähriger, sechseinhalb Monate alt, um genau zu sein.« Milestone nickte. »Aber er ist aggressiv wie ein gereiztes Raubtier. Er kann noch nicht einmal vernünftig sprechen. Dabei wäre er in der Lage, einem terranischen Preisringer alle Knochen zu brechen. Im Tempereg, wie ich dieses regulative Kleidungsstück nenne, kann er jedoch keinen Schaden anrichten.«
»Das ist grausam«, sagte Baya erbost.
»Halb so wild. Puko trägt den Tempereg nur während seiner Aggressionsphase, etwa eine Stunde am Tag. Wenn er sich ordentlich abreagiert hat, kann er ihn ablegen.«
»Das ist trotzdem barbarisch.«
Milestone lachte nur und sperrte sie zu Puko in die Zelle. Baya verzweifelte fast, als sie den Jungen aus nächster Nähe in der Zwangsjacke toben sah.
Nach gut einer Viertelstunde wurde Puko apathisch. Ein Paratender kam und nahm ihm den Tempereg ab. Der Mann erklärte Baya, dass in dem seltsamen Kleidungsstück ein Umsetzer eingebaut war, der während Pukos Tobsuchtsanfällen Energiespeicher auflud. »Jedes Mal genug, dass wir Deck eins für vierundzwanzig Stunden mit Strom versorgen können.«
Baya Gheröl verlor in der Zelle jeden Zeitbegriff. Sie wusste nur, dass immer ein Tag vergangen war, wenn Puko in den Tempereg gesteckt wurde. Dreimal wiederholte sich die Tortur, und in diesen drei Tagen lernte Baya den halbjährigen Tempester besser kennen.
Anfangs hatte Puko nur einen geringen Wortschatz, doch er lernte verblüffend schnell. Worte, die Baya sagte, nahm er sofort in seinen Sprachschatz auf und vergaß sie nicht wieder.
Baya schloss daraus, dass die Lernfähigkeit der Tempester ab einem bestimmten Alter wieder nachließ. Der eineinhalbjährige Jako, mit dem sie früher Bekanntschaft geschlossen hatte, war längst nicht so aufnahmefähig gewesen.
Pukos Wissensbegierde kam Baya sehr zustatten. Sie beschloss von Anfang an, ihn durch gezielte Informationen in ihrem Sinn zu formen und sein Denken in die von ihr gewünschten Bahnen zu lenken. Er glaubte noch an die Macht der Tanzenden Jungfrau, die bis vor Kurzem von den Tempestern vergöttert worden war. Puko wusste nicht, dass der Totemträger Margor den Tempel der Göttin zerstört und sich durch diese Machtdemonstration zum allgewaltigen Herrscher über die abergläubischen Menschen von Jota-Tempesto aufgeschwungen hatte.
Puko hatte wie alle Tempester die Tanzende Jungfrau nie gesehen, sodass Baya keine Mühe hatte, ihm einzureden, sie selbst sei die Tanzende Jungfrau mit dem dritten Auge.
»Wo hast du dein drittes Auge?«, fragte Puko nur.
»Milestone hat es mir entwendet.«
»Ich werde es dir zurückholen, Baya.«
»Wenn dir das gelingt, dann verspreche ich dir, dich nach Jota-Tempesto heimzuführen und dir die Freiheit wiederzugeben.«
Puko war daraufhin ganz verklärt. Nur während der Aggressionsphase, in der er den Tempereg trug, vergaß er die Schwüre, dass er sein Leben nur noch ihr widmen wolle.
Milestone kam nie selbst, um Puko den Temperament-Regulator anzulegen, sondern schickte immer einen anderen Paratender.
»Was ist mit dem verrückten Wissenschaftler?«, fragte Baya bei einer dieser Gelegenheiten. »Hat er endlich das Auge an Margor zurückgegeben?«
Der Paratender zeigte ein leicht verlegenes Lächeln. »Boyt ist so weit fort, dass wir keine Verbindung mehr zu ihm haben. Ich kenne ihn kaum mehr, und – ich fühle nichts für ihn.«
Da wurde Baya klar, dass Margor durch seine Isolation immer mehr die Kontrolle über die Paratender verlor. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass einer seiner Abhängigen so respektlos über ihn sprach.
Immer wenn einer der Paratender Puko den Tempereg anlegte, beobachtete Baya jeden Handgriff, um herauszufinden, wie die Verschlüsse funktionierten. Außerdem erforschte sie den Mechanismus des Zellenschlosses, der, wie sie herausfand, weniger kompliziert war als die Sicherheitsverschlüsse des Tempereg. Schließlich war es ihr möglich, das Schloss kurzzuschließen und die Zelle zu verlassen. Baya unternahm einen Rundgang auf dem Deck, musste jedoch zu ihrer Enttäuschung feststellen, dass ihr der Zutritt zu Milestones Labor verwehrt blieb. Sie brauchte also Pukos Unterstützung, und ihr blieb keine andere Wahl, als ihn während einer Aggressionsphase von der Zwangsjacke zu befreien. Sie wollte nur noch die nächste Phase abwarten.
Als Puko immer unzusammenhängender redete und
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