Silberband 116 - Der Auserwählte
sich zwischen den Büschen hindurch. Als sie am Ufer standen, sah Nyman sich prüfend um. Er schnüffelte.
»Merkt jemand was? Es wird kälter.«
Lyn spürte nichts davon, aber Zelda Gren bestätigte, dass es in der Tat kühler geworden sei.
Sie brauchten kaum länger als vierzig Minuten, bis sie das Wrack erreichten. Es war nicht wirklich nur ein Stück, sondern ein ganzes Trümmerfeld. Und die Überreste stammten eindeutig von der MEMPHIS.
Zögernd schritt Lyn Degas mitten hindurch. Der Leichte Kreuzer war ihr erstes Kommando gewesen. Es tat weh, das Schiff so erbärmlich zertrümmert zu sehen.
»Das war ein harter Aufprall«, sagte sie zu Nyman. »Aber ich sehe kaum Spuren von Hitzeeinwirkung. Keine Anzeichen der hohen Temperaturen, die durch die atmosphärische Reibung entstanden sein müssten.«
»Wenn es einen Absturz mit hoher Geschwindigkeit gegeben hätte, wären wir nicht mehr am Leben«, hielt ihr Nyman entgegen.
»Wenn wir so hart aufgeschlagen wären wie die MEMPHIS, wären wir ebenfalls nicht mehr am Leben. Wir sind auf andere Weise hierher gelangt als unser Schiff.«
Lyn fröstelte. Aber das hatte wohl nichts mit sinkenden Temperaturen zu tun, sondern eher mit den unerklärbaren Geschehnissen.
»Hier ist ein Kriechgang!«, rief Hormel Dan. »Wenn wir ein paar kräftige Stangen hätten, könnten wir ihn weit genug aufstemmen, dass einer von uns hineinkann.«
Das Stück, an dem er hantierte, hatte einen tiefen Krater in den weichen Boden geschlagen. Dans Gesicht und seine Montur waren mit einer öligen Flüssigkeit beschmiert, und an der Hand hatte er sich eine blutende Schramme geholt.
»Was ist das für Zeug?« Nyman deutete auf Hormels ölverschmiertes Gesicht.
»Weiß nicht. Das Wrack ist voll davon.«
»Probier’s mit der Zunge!«
Der Erste Offizier fuhr sich mit dem Finger über die Wange. Misstrauisch betrachtete er die grünlich schillernde Flüssigkeit. Er schob die Zungenspitze zwischen den Lippen hervor, um den Finger abzulecken.
»Nicht!« Lyns Aufschrei ließ Dan innehalten. »Das Zeug ist giftig!«, stieß sie hervor. »Wasch dich am Bach, bis keine Spur mehr davon übrig ist.«
Äußerlich ruhig wandte sie sich wieder Nyman zu. »Viskosit, nicht wahr?«, sagte sie. »Die Flüssigkeit, die Roboter für alle hydraulischen Körperfunktionen verwenden?«
Der Wissenschaftler nickte gelassen.
»Ich weiß nicht, was du hier vorhast«, zischte Lyn, »aber noch so ein fauler Trick, und du wirst mich kennenlemen!«
Jak Nyman zuckte mit den Schultern. »Das Zeug schmeckt so scheußlich, dass er es sofort ausgespuckt hätte.«
Sie untersuchte den Kriechgang, wie Hormel Dan ihn genannt hatte. Die gesamte Höhlung war mit Viskosit beschmiert. Viskosit war eine halborganische Flüssigkeit von hoher Zähigkeit und sehr geringer Kompressibilität. Sie war außerdem überaus toxisch. Viskosit hatte den Vorzug, dass es einen hohen Siedepunkt besaß, bei normalen Temperaturen somit fast keine Dämpfe entwickelte und leicht wasserlöslich war. Wären eine Pumpe und ein ausreichender Wasservorrat verfügbar gewesen, hätte sie die gefährliche Substanz einfach davonspülen können. So jedoch entschloss sich Lyn, das Wracksegment zu ignorieren.
Jak Nyman hockte im Gras und starrte ins Nichts. Nachdem Lyn Degas mit Zelda über das Gift gesprochen hatte, setzte sie sich neben den Wissenschaftler. Eine ganze Weile sprach keiner von beiden auch nur ein Wort. Schließlich seufzte Nyman.
»Ist mir vergeben?«
»Vergeben, etwas anderes fällt dir nicht ein?«, fuhr die Kommandantin auf. »Leider brauche ich deinen geschulten Verstand.«
»Worum geht’s?«, fragte er knapp.
»Da drinnen schwappen mindestens zehn Liter Viskosit umher. Das heißt, in dem Wrackstück müssen sich mindestens zwei Roboter befunden haben, die beim Aufprall zerstört wurden. Andernfalls wäre die hydraulische Flüssigkeit nicht freigesetzt worden.«
Nyman schien auf weitere Äußerungen zu warten, denn er reagierte erst nach einer Weile. »Und was ist daran so überraschend?«, wollte er wissen.
»Eigentlich nichts, außer dass wir den Absturz überlebt haben. Wieso sind die MEMPHIS und die Roboter zerstört, aber wir leben noch?«
Abermals zögerte Nyman.
»Ich habe mir dieselbe Frage gestellt, und ich muss zugeben, dass ich die Antwort nicht kenne.«
»Ist es denkbar, dass es hier eine ... Kraft... einen Einfluss gibt, der zwischen belebter und unbelebter Materie zu unterscheiden weiß... und uns
Weitere Kostenlose Bücher