Silberflügel: Roman (German Edition)
ich mit dem Leben davongekommen bin. Danach wollten die Ältesten sich nur noch in der Nacht aufhalten und vergessen, dass sie jemals die Freiheit gehabt hatten, auch am Tage zu fliegen. Die meisten Fledermäuse glauben, dass sie damit Recht haben, und ich kann ihnen nicht widersprechen. Es klingt vernünftig. Aber es gibt einige Fledermäuse, die können sich einfach nicht von dieser Idee der Sonne und der Freiheit trennen. Ich gehöre auch zu ihnen. Und auch dein Vater hat dazugehört.“
„Mami hat gesagt, er ist von Eulen getötet worden.“
„Er ist irgendwo hingeflogen, nur ein paar Nächte, bevor wir unsere Reise zurück in den Norden angetreten haben. Er hat keinem erzählt, wo er hin wollte, jedenfalls habe ich nie davon gehört. Vielleicht hat er einem von den anderen etwas gesagt. Ich weiß nur, es gab da etwas, das er herausfinden wollte, vielleicht etwas über die Ringe, über die Menschen. Und er ist nie zurückgekommen. Es gab ein paar andere vor ihm, die auch verschwunden sind.“
„Mami hat nur gesagt, er war unvernünftig, weil er die Sonne sehen wollte.“
„Ich weiß, dass sie nie mit seinen Ideen einverstanden war. Und sie will dich beschützen, Schatten. Vielleicht hat sie dir nicht die ganze Wahrheit erzählt, aber ich habe den Verdacht, es gibt auch viel, was Cassiel ihr nicht erzählt hat. Du solltest es ihr nicht übel nehmen.“
„Wir sollten mit ihnen kämpfen“, sagte Schatten mit einer kalten, plötzlichen Wut. Wie konnten die anderen Silberflügel nur so schwach sein? Millionen Jahre lang zulassen, dass die Eulen und die anderen Vögel und die vierfüßigen Tiere ihnen vorschrieben, was sie tun sollten? Was für ein Recht hatten sie eigentlich dazu? „Wenn alle Fledermäuse kämpfen würden, dann könnten wir …“
Aber Frieda schüttelte den Kopf. „Nein, nicht einmal dein Vater hat das geglaubt, Schatten. Er hat gewusst, dass wir in einem Kampf nicht gewinnen könnten, das war offensichtlich. Er hat geglaubt, etwas anderes würde kommen, etwas, das wir bräuchten.“
Schatten schaute weg und schämte sich wegen seines Ausbruchs. Er war unendlich müde, als hätte er all die Geschichten im Echoraum selber erlebt.
„Warum hast du mir das alles gezeigt?“, fragte er. Was hatte das für einen Sinn, fragte er sich. Er konnte die Vergangenheit nicht ändern oder seinen Vater zurückholen oder auch nur die Zukunft ändern. Er war ein junger Knirps in einer Kolonie von Silberflügeln mitten im Nichts.
Frieda lächelte ihn an, und er fand ihre tiefen Gesichtsfalten nicht mehr so Furcht einflößend. „Du bist nicht wie die anderen. Ich erkenne etwas an dir, eine Art Leuchten, das nicht verdunkelt werden sollte. Du bist neugierig. Du möchtest Dinge wissen. Ich habe dich beobachtet. Du bist auch ein guter Zuhörer. Du wirst Sachen hören, die kein anderer hören kann. Und das ist viel wichtiger als deine Körpergröße, Schatten.“
Er wurde rot bei dem Kompliment und wünschte nur, er könnte es glauben. Es gab noch so viele Fragen, die er stellen wollte, aber außerhalb des Echoraums hörte er ein Flügelschlagen und dann Merkurs Stimme.
„Frieda“, sagte der Bote nachdrücklich. „Die Eulen kommen. Und sie haben Feuer dabei.“
– 4 –
Die Feuersbrunst
Schatten kreiste mit Frieda und Merkur über dem Baumhort und beobachtete, wie sich die Eulen näherten. Sie flogen hoch am Himmel in Pfeilformation, fünfunddreißig, vielleicht vierzig, und die unheimliche Stille ihrer mächtigen Flügelschläge verursachte Schatten Übelkeit. In den Klauen hielten sie lange Stöcke, deren Enden wie gefährliche Sterne glitzerten. Feuer. Schatten starrte entsetzt auf diesen Anblick. Nur die Eulen besaßen Feuer. Vor hunderten von Jahren hatten sie es von den Menschen gestohlen und in geheimen Nestern tief im Wald am Leben gehalten.
„Merkur“, sagte Frieda mit erstaunlicher Ruhe, „geh und verbreite die Nachricht im Wald und sage allen, sie sollen dort Schutz suchen. Sag ihnen, es wird keinen Kampf geben. Schatten, begib dich in unseren Unterschlupf und sorge dafür, dass alle ihn verlassen.“
Er musste schlucken.
„Hast du verstanden?“, fragte ihn Frieda.
„Ja.“
„Du weißt, was passieren kann?“
Er nickte heftig und flog los, dankbar, dass er etwas zu tun hatte. Er stürzte hinab und in den Baumhort hinein mit dem Warnruf:
„Alle die Unterkunft verlassen! Alle die Unterkunft verlassen!“
Er steckte seine ganze Kraft in diese Aufgabe und versuchte nicht
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