Silberflügel: Roman (German Edition)
an das Feuer in den Klauen der Eulen zu denken. Er fing unten an und arbeitete sich nach oben durch, hetzte durch jede Windung und Krümmung der Äste, um sicher zu sein, dass er niemanden übersehen hatte. „Alle die Unterkunft verlassen! Alle nach draußen!“ Und das alles nur seinetwegen – es war seine Schuld. Ein Glück, dass fast alle draußen bei der Jagd waren.
Die Fledermäuse, die sich noch drinnen aufhielten, waren alt und schwach, und er musste einige anstoßen und aufwecken und ihnen zum Ausgang helfen und eilig erklären, was los war.
Sein Fell war schweißnass, als er wieder zu Frieda hinausflog.
„Alle sind draußen“, japste er.
„Gut“, sagte Frieda und starrte hoch zu den Eulen. Sie flogen noch sehr hoch, aber jetzt kreisten sie direkt über ihnen. Eine von ihnen löste sich von der Gruppe und kam langsam herabgeschwebt. Es war, wie Schatten bemerkte, die einzige Eule, die kein Feuer in den Klauen hielt.
„Fort mit dir“, befahl ihm Frieda. „Suche Schutz im Wald bei den anderen.“
„Was willst du tun?“
„Mit der Eule reden.“
Schatten zögerte. Er wollte bleiben. Er wollte helfen. Eine alte Fledermaus allein gegen diese fliegenden Riesen …
„Vielleicht sollte ich …“
„Fort!“, befahl Frieda scharf, schwenkte die Flügel und entblößte erstaunlich scharfe Zähne.
Schatten entfernte sich, aber nicht weit, nur bis zum nächsten Baum. Er krallte sich in der Rinde fest und hing kopfüber, schaute zu Frieda und der riesigen Eule zurück, die sich nun neben ihr auf der Spitze des Baumhorts niederließ.
„Brutus“, sagte Frieda mit einem höflichen Nicken.
„Frieda Silberflügel“, kam die Antwort der Eule so tief wie Donnergrollen.
„Du hast Krieger mitgebracht und Feuer, Brutus. Warum?“
„Du weißt, warum. Wir sind gekommen, um die Fledermaus zu holen, die die Sonne gesehen hat.“
Schatten fühlte, wie bei den Worten der Eule seine Knochen schlotterten. Er hielt den Atem an, während er auf Friedas Antwort wartete. Sie sah so klein aus neben der Eule.
„Du kannst nachts nicht gegen uns Krieg führen, Brutus. Das ist das Gesetz.“
Schatten merkte, dass in den nahen Bäumen um ihn herum andere Silberflügel hinter Blättern hingen, auf Ästen kauerten, sich an die Rinde pressten. Hunderte von dunklen Augen beobachteten Frieda und Brutus ängstlich und aufmerksam.
„Das Gesetz ist schon gebrochen worden“, sagte Brutus. „Wir verlangen Gerechtigkeit. Ich fordere dich noch einmal auf, und das ist das letzte Mal: Gib uns den Jungen.“
Schatten fühlte, wie sein Inneres flüssig wurde.
„Der Junge ist noch ein Kind, und er wusste es nicht besser“, sagte Frieda. „Dieses eine Mal könnt ihr doch sicher über seine Dummheit hinwegsehen.“
„Das Gesetz kennt keine Ausnahmen.“
„Überlass ihn den Eulen!“ Das war Bathsheba, die aus dem Wald herausflog und neben Frieda landete. „Brutus hat Recht. Das Gesetz ist gebrochen worden und der Junge muss dafür bezahlen.“
Schatten konnte fühlen, wie die Augen der anderen Fledermäuse nun auf ihn gerichtet waren. Unter ihren Blicken wurde ihm heiß, als wäre er der Glut der Sonne ausgesetzt. Wollten sie, dass er sich stellte, fragte er sich und fühlte im Bauch ein schreckliches Nagen. War es das?
„Du weißt, dass ich Recht habe, Frieda“, fuhr Bathsheba fort. „Ein Leben als Preis für das Gesetz – zum Schutz für uns alle. Wo ist der Junge?“
Hoffnungsvoll warf Schatten ein Klangnetz aus und erfasste den charakteristischen Umriss seiner Mutter, ihr kopfüber hängendes Gesicht und die Schultern. Sie wandte sich zu ihm und ihre Blicke trafen sich durch ein Gewirr belaubter Zweige.
Er schaute wieder zur Eule hoch. Er wusste, was sie tun würden, wenn er sich nicht stellte. All die anderen Fledermäuse hielten ihn für einen Knirps, einen Unruhestifter, und nun würden sie ihn auch noch für einen Feigling halten. Es war seine Schuld. Welche Wahl hatte er schon? Er schloss die Augen, holte tief Luft, spannte die Muskeln und wollte losfliegen. Starke Kiefer packten seine Hinterbeine, rissen ihn zurück und er taumelte gegen Ariels warmes Fell.
„Wage es bloß nicht“, zischte sie scharf.
Er hatte sie nicht einmal landen hören.
„Sie haben Feuer“, sagte er. „Wenn ich es nicht tue, dann werden sie …“
„Sie können mich an deiner Stelle haben.“
In stummem Entsetzen schüttelte Schatten den Kopf, und endlich wurde ihm klar, in welcher Gefahr sie sich befanden. Die Eulen
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