Silberflügel: Roman (German Edition)
Löchern und Gräben der Tiere entstellt. Er wusste, die Schlacht musste eine lange Zeit angedauert haben, viele Jahre lang.
Er schwebte über ein großes Feld hinab und sah, dass sich dort Vierfüßler und Vögel versammelt hatten und irgendein wichtiges Treffen abhielten.
„Der Friedensvertrag“, hörte er Frieda sagen. Sie lauschte mit ihm zusammen.
Die Fledermäuse waren auch dabei, und alle anderen Geschöpfe schienen wütend auf sie zu sein, schrien und zeigten auf sie. Eine große Eule breitete als Richter die Flügel aus, und ein gewaltiger Wolf warf den Kopf zurück und heulte. Die Fledermäuse flogen auf, schraubten sich in die Luft, zerstreuten sich über den Himmel.
Und plötzlich war es Nacht.
„Was ist passiert?“, rief Schatten.
„Die Vierfüßler gaben uns die Schuld dafür, dass sie die Schlacht verloren hatten. Die Vögel warfen uns vor Feiglinge zu sein, weil wir uns geweigert hatten mitzukämpfen. Hör zu.“
Die Stimme, die Schatten am Anfang gehört hatte, kehrte jetzt in seinen Kopf zurück.
„Für Millionen von Jahren haben wir im Dunkeln gelebt. Die Sonne ist nun schmerzhaft für unsere Augen. Nocturna, der Geflügelte Geist, war ärgerlich auf die anderen Geschöpfe, weil sie uns verbannt hatten. Zwar konnte sie das Geschehene nicht ungeschehen machen, aber sie gab uns neue Gaben, um uns beim Überleben zu helfen. Sie machte unser Fell dunkel, damit wir an die Nacht angepasst sind. Sie gab uns das Klang-Sehen, damit wir im Dunkeln jagen können. Aber das größte Geschenk, das sie uns gab, ist das Große Versprechen.“
Nach einer kurzen Pause ging es weiter:
„Vor langer Zeit, vor Abermillionen von Jahren war die Welt ein leerer Ort …“
Die Botschaft war wieder an ihrem Anfang angelangt und Schatten bewegte den Kopf aus dem Echostrom hinaus.
Er hatte das Gefühl, für lange Zeit weg gewesen zu sein.
Er drehte sich zu Frieda hin. Von Nocturna hatte er schon früher gehört, jedes Junge hatte das. Sie war der Geflügelte Geist, der alles geschaffen hatte. Aber er hatte so viel Neues gehört und war so von Gefühlen überwältigt, dass er kaum wusste, womit er beginnen sollte.
„Wir haben doch nichts getan!“, rief er. Er hatte irgendetwas Fürchterliches erwartet, irgendein Verbrechen, das ihn schaudern lassen würde, weswegen er sich seiner Vorfahren schämen müsste. „Sie haben uns verbannt, nur weil wir in dem Krieg keine Partei ergriffen haben!“
„Für die Vögel und für die Vierfüßler waren wir Feiglinge und Verräter.“
„Aber davor konnten wir tatsächlich am Tage fliegen? Ist das wahr? Wir waren frei?“
„Ich glaube, ja.“
„Was ist das Große Versprechen?“
„Das ist auch hier“, sagte Frieda und reckte ihren Kopf hierhin und dorthin im Echoraum. „Wir wollen sehen, ob wir es finden können. Es ist eine der ältesten Geschichten hier …“
Schatten wusste, dass Frieda es in Sekundenschnelle finden konnte und dass sie nur versuchte, ihm den Gebrauch des Echoraums beizubringen. Gemeinsam siebten sie die Klangströmungen durch, und bald merkte Schatten, dass sie alle unterschiedlich waren. Die jüngeren Botschaften waren klarer und ein bisschen lauter, die älteren waren von einem schwachen Pfeifen begleitet, Wörter und Bilder waren gelegentlich verschwommen oder völlig unverständlich.
„Du kommst der Sache näher“, sagte Frieda.
Er fand eine Geschichte, die ganz schwach über den Boden der Höhle wehte. Er horchte, schnappte ein paar Wörter auf. „Ist sie das?“
Frieda spitzte die Ohren, kniff die Augen zusammen und nickte. „Gut gemacht.“
Schatten klinkte sich in das Echo ein und ließ die Geschichte seinen Kopf ausfüllen. Diesmal war es eine andere Stimme, brüchig und alt, aber durchdrungen von einer Art strahlender Hoffnung.
„Dies ist die Geschichte von Nocturnas Großem Versprechen. Sie ist über eine Million Jahre lang von einer Fledermaus zur anderen überliefert worden, und ich singe sie an diese Wände, damit künftige Generationen von Silberflügeln wissen, was sich ereignet hat und was sich noch ereignen wird. Das Große Versprechen wurde eines Tages vor langer Zeit gegeben …“
Schatten befand sich in einem uralten Wald und blickte von dort über die Felder. Keine Fledermaus war zu sehen. Er war ganz allein mitten am Tag, die Sonne stand hoch am Himmel. Plötzlich legte sich Dunkelheit über die Erde, als ob eine gigantische Fledermaus langsam ihre Flügel entfaltete und das Licht verdeckte. Die
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