Silberflügel: Roman (German Edition)
sie in der Ferne eine Schar Tauben gesehen, die über den Dächern patrouillierte, und einmal hatte er vor dem aufgehenden Mond die Silhouette einer Wächtereule entdeckt. Aber sie waren unbemerkt geblieben. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass man ihnen folgte.
Das Mondlicht machte ihn nervös. Es brachte das Silber in seinem Fell zum Leuchten, und manchmal glänzte Marina geradezu.
Wenigstens waren sie jetzt weit vom Ozean entfernt. Und er konnte vor ihnen Bäume und Felder riechen und deren vertraute Umrisse hören. Er wusste, wovon er sich hier fern halten musste, wo er essen, wo er sich verstecken konnte.
„Ich kann es immer noch nicht glauben, dass mein Vater lebt“, sagte er. „Aber wo nur?“
„Er ist in der Nähe von Hibernaculum verschwunden, ja? Dort wirst du deine Suche aufnehmen.“
„Was ist, wenn die Eulen ihn haben?“ Schatten hatte furchtbare Geschichten darüber gehört, wie Eulen Fledermäuse als Sklaven hielten, um Nester zu bauen, Bäume auszuhöhlen – und sie dann auffraßen.
Marina schüttelte den Kopf. Schatten wusste, auch wenn sie ihn rechtzeitig fänden, wäre es fast unmöglich, ihn aus einem Eulennest zu befreien.
„Vielleicht ist er bei den Menschen“, meinte Marina hoffnungsvoll.
Schatten lächelte. Es war eine tröstliche Vorstellung. Aber warum war sein Vater dann nicht gekommen, um es Ariel und den anderen zu erzählen – um es ihm zu erzählen? Er würde sie doch nicht alle verlassen und die Geheimnisse für sich behalten?
Lautlos stürzte sich mit ausgebreiteten Flügeln die Eule von hinten auf Schatten, und nur wegen des stechenden Geruchs wirbelte er gerade noch rechtzeitig weg. Er schrie und warf sich auf die Seite, schnell genug, um den Klauen zu entkommen, nicht aber den Flügeln. Der Schlag ließ ihn wie betäubt zu den Bäumen hinabtrudeln. Er traf auf einen Ast, der Aufprall wurde von trockenen Blättern gemildert, und er krallte sich in dem Holz fest, um nicht abzurutschen.
Riesige Augen blickten auf ihn herab. Verzweifelt versuchte er wegzukommen, als die Eule mit ihren Flügeln auf den Ast eindrosch. Er sah, wie Marina sich auf den Rücken des Vogels warf und mit Klauen und Zähnen in das dichte Gefieder eindrang.
Die Eule kreischte vor Wut, warf den gewaltigen Kopf herum und schnappte mit dem krummen Schnabel nach Marina. Diese riss sich los und die Eule fegte sie mit dem Flügel beiseite.
Und wandte sich wieder zu Schatten. Alles, was er sehen konnte, waren diese flachen mondförmigen Augen – und dann traf den Vogel von der Seite etwas Großes und Dunkles und hielt fest. Es war, als ob sich ein Stück des Nachthimmels losgerissen hätte und herabgestürzt wäre. Die Eule brüllte vor Schmerz. Schatten sah mächtige schwarze Flügel, dann Krallen und Kiefer, die sich öffneten und den Hals der Eule packten. Es gab ein schreckliches knackendes Geräusch.
Es war eine Fledermaus.
Die Fledermaus öffnete das Maul, und die Eule sackte leblos zusammen, ihre Flügel hatten sich in den Ästen verfangen. Die Fledermaus schaute Schatten an.
„Bist du unverletzt?“
Schatten nickte. „Danke“, flüsterte er mit trockener Kehle. Er kam sich außergewöhnlich klein vor. Diese Fledermaus war mindestens viermal so groß wie er. Als ob die steinernen Wasserspeier tatsächlich lebendig geworden wären. Die Ähnlichkeit war beunruhigend. Das Gesicht war eher das eines Vierfüßlers als das einer Fledermaus.
Es hatte eine lange Schnauze, die jetzt von Blut bespritzt war, große Augen und eine merkwürdig flache Nase, die nach oben stand.
Eine zweite ebenso riesige Fledermaus mit einer Flügelspanne von mindestens einem Meter kreiste über ihnen.
„Ich heiße Goth“, sagte die erste Fledermaus. „Und das“, sagte er mit einer verächtlichen Bewegung des Kopfes, „ist mein Begleiter Throbb.“
„Ich bin Schatten und …“ Er brach ab und schaute besorgt um sich. „Marina!“
„Hier“, sagte sie, kam herangeflattert und blickte misstrauisch auf Goth und Throbb. „Alles okay, Schatten?“
„Sie haben mir das Leben gerettet“, sagte er aufgeregt und wandte sich an Goth. „Ihr kommt aus der Stadt, nicht wahr? Ihr seid die beiden, die die Tauben getötet haben.“
„Woher wisst ihr das?“
„Weil sie uns gefangen haben“, sagte Marina, „und wissen wollten, wer ihr seid.“
„Haben sie euch angegriffen?“, fragte Schatten.
Die Riesenfledermaus lachte. „Tauben? Nein. Wir hatten Hunger.“ Er beugte sich über den Körper der
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