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Silberflügel: Roman (German Edition)

Silberflügel: Roman (German Edition)

Titel: Silberflügel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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daher war sein Klang-Sehen stumpf, alle seine Echobilder waren verschwommen und matt. Er wusste, sie würden erfrieren, wenn sie es heute Nacht nicht über den Gipfel schafften. Sie hatten nichts im Magen, nicht einmal einen einzigen Schneefloh. Wie köstlich es doch wäre, sich einfach in die Flügel einzuwickeln und immer weiter zu schweben, hinunter, hinunter, hinunter …
    „Wach auf!“, schrie ihm Marina ins Ohr und mit einem schrecklichen Ruck kam er wieder zu Bewusstsein. Er wäre beinahe eingeschlafen und war schon dabei gewesen, sich auf eine Seite zu legen.
    „Danke“, murmelte er und richtete sich wieder auf.
    „Tu mir das nicht an“, sagte Marina, die offenbar erschrocken war. „Bleib wach. Rede mit mir, singe, es ist mir egal, dämmere nur nicht ein.“
    Schatten schüttelte den Kopf und zwang sich dazu, tief von der eisigen Luft einzuatmen. Sie brannte in der Lunge, aber wenigstens machte ihn das hellwach.
    Sie flogen niedrig über einen gezackten Bergkamm hinweg und der Wind entfesselte seine ganze Wut.
    Sie waren auf dem Gipfel der Welt.
    Nach beiden Seiten erstreckte sich eine Kette eisbedeckter Berge. Seine Augen tränten wie verrückt und er verengte sie zu bloßen Schlitzen. Für einen Augenblick übertönte das Geheul von Wölfen den Sturm und er sah nicht nur zwei von ihnen, sondern dutzende, die sich vor dem Eingang einer Höhle in einem der steilen Abhänge versammelt hatten. Er schaute zu Marina.
    „Da hinunter will ich nicht!“, rief sie.
    „Was können wir sonst tun?“
    „Das wäre Selbstmord!“
    „Meine Mutter hat mir Wölfe gesungen!“
    „Wolfsohren!“, sagte Marina und plötzlich musste sie lachen.
    Sie ist verrückt geworden, dachte Schatten. Bei all der Kälte und Erschöpfung ist sie schließlich durchgedreht. Sie plapperte und lachte gleichzeitig, vielleicht, weil sie mitten in der Luft einen riesigen weißen Wolf sah, der auf sie zugesprungen kam. Vielleicht hatte sie Recht, er würde jetzt fast alles glauben.
    „Wolfohren!“, schrie sie noch einmal eindringlicher in seine Richtung.
    Und er schaute.
    In einiger Entfernung ragten seitwärts von ihnen zwei Bergspitzen in den Himmel. Dazwischen war ein tiefes Tal eingegraben. Es sah genauso aus wie das Bild auf der Klangkarte seiner Mutter, gar kein Tier, sondern ein schneebedeckter Gebirgspass, der den Ohren eines riesigen weißen Wolfes täuschend ähnlich sah.
    „Da sind sie.“
    Goth zog die Schultern hoch und ließ sich von den sturmstarken Winden tragen, die über die Berggipfel fegten. Vor ihnen konnte er Schatten und Marina sehen, die auf ein Tal zwischen zwei eisbedeckten Gipfeln zuflogen. Er war ihnen die letzten beiden Stunden gefolgt und dabei ständig näher gekommen.
    Er hielt Abstand, er wollte noch nicht entdeckt werden. Wenn er zuschlug, würde es keinen Fehler geben. Trotz der Kälte, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, fühlte er sich stark. Letzte Nacht hatte es ein Festmahl gegeben wie er es, seit er den Dschungel verlassen hatte, nicht mehr gehabt hatte. Mit Befriedigung blickte er auf die Ringe aus glitzerndem Metall, die wie Girlanden seine Unterarme schmückten. Sie waren kleiner als sein eigener Ring, leichter zu biegen, und er hatte sie von seiner Beute abgerissen, dabei manchmal Handgelenke geknackt, um an die Ringe heranzukommen. Seine neuen Jagdtrophäen.
    Neben ihm flog schwer arbeitend Throbb. Die Blasen auf seiner Flügelspitze hatten sich ausgedehnt und sahen jetzt richtig bösartig aus. Throbb sagte, sie brannten in der Kälte. Ein Schwächling. Goth war angewidert von ihm. Aber im Augenblick war sein Magen voll und Throbb wirkte nicht sonderlich appetitlich. Später vielleicht. Er richtete seine Augen und Ohren auf Schatten und Marina.
    Ein Windstoß brauste hoch zu ihm, fegte durch die Metallringe und sandte ein kurzes, aber durchdringendes Pfeifen über die Berge.

– 18 –
Die Ratten
    Schatten hörte das gespenstische Pfeifen, als der tosende Wind einen Moment nachließ.
    Er drehte sich um und sah sie. Sie hingen am Himmel wie Bilder, die aus einem Albtraum herausgerissen waren. Aus irgendeinem Grund war er kaum überrascht. Er hatte so oft an diesen Augenblick gedacht, ihn in Gedanken durchgespielt, dass er einfach unvermeidlich schien. Aber dieses Geräusch … Was war das für ein schreckliches Pfeifgeräusch?
    „Marina“, krächzte er, „sie sind da.“
    „Was?“ Sie warf den Kopf herum und starrte hinter sich. „Ach nein, sie sollten doch tot sein

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