Silberflügel: Roman (German Edition)
…“
Eine heftige Querbö schleuderte sie beide zur Seite und sie richteten ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Wolfsohren.
„Vielleicht können wir die beiden auf der anderen Seite der Berge loswerden“, sagte er.
„Ich würde meine Flügel trimmen, wenn ich du wäre. Jetzt wird’s gefährlich.“
Schatten schluckte. Die Zwillingsspitzen erhoben sich am Horizont. Blitzartig kam ihm die Klangkarte seiner Mutter ins Gedächtnis – er konnte verstehen, warum er zunächst gedacht hatte, der Berg wäre ein Wolf, der auf ihn zusprang. Genauso sah es jetzt aus, als er sich vorwärts stürzte.
Seine Flügel waren steif vor Frost. Er wurde wieder auf die Seite geworfen, dann korrigierte er seinen Kurs und zielte auf den schmalen Pass. Aber er kam zu nahe an den linken Gipfel heran und der Wind machte es ihm unmöglich abzudrehen.
„Schatten!“, hörte er Marina auf seiner Rechten wie aus großer Entfernung rufen.
Er sah vereiste Felsen auf sich zurasen. Er würde abstürzen.
Er versuchte hochzuziehen und bremste so scharf mit den Flügeln, dass er schon fürchtete, sie würden wie gefrorene Zweige brechen. Alles schien sich sehr langsam zu bewegen, die Felsen, die auf ihn zukamen, der Wind in den Ohren. Er dachte daran, den Bauch einzuziehen, Beine und Krallen anzulegen. Er empfand nur eine vage Enttäuschung, dass sein Leben so bald zu Ende sein sollte.
Er berührte eine harte Schneefläche, fühlte ihre beißende Kälte und war nach einem ganz leichten Aufprall mit wild schlagenden Flügeln wieder in der Luft. Er kam vom Boden hoch und schwenkte schräg zurück in den Himmel auf Marina zu.
„Da hast du aber noch mal Glück gehabt!“, hörte er sie über dem Wind rufen.
Sie jagten zwischen den Wolfsohren hindurch, und dahinter fiel das Gelände Schwindel erregend ab, kippte in völlige Dunkelheit hinunter. Schatten fühlte, wie sein Magen absackte. Was war da unten? Die Erdoberfläche war zu weit entfernt, als dass sein Klang-Sehen hinunterdringen konnte. So weit er wusste, hätte die Welt hier auch zu Ende sein können.
Schatten warf einen Blick zurück über die Schulter und sah Goth und Throbb, die sich vom Wind zwischen den Wolfsohren hindurchtragen ließen und näher kamen. Mit ihren mächtigen Flügeln würden sie sie in ein paar Minuten eingeholt haben.
„Jetzt!“, sagte Schatten entschlossen.
Er hörte auf mit den Flügeln zu schlagen und legte sie eng an. Marina folgte seinem Beispiel. Er wartete ab, dass er langsamer wurde, der Wind ihn noch ein paar Augenblicke weitertrug, bis er anfing zu sinken. Er ließ sich vornüber kippen und stürzte mit der Nase voran wie ein Hagelkorn hinab in den sternlosen Abgrund. Der Magen sprang ihm in die Kehle. Immer hatte er das Fliegen geliebt, die Aufregung eines steilen Sturzfluges, aber dies war etwas vollkommen anderes. Dies war schneller, als er jemals geflogen war, vielleicht schneller, als irgendeine Fledermaus jemals geflogen war.
Er konnte kaum atmen. Die Luft prallte gegen die Nüstern. Der Wind stach ihm wie Eiskörner in den Augen und er schloss sie fest. Sogar sein inneres Auge sah nichts als vollkommene Schwärze, die nur manchmal in hellen Sternen aufblitzte durch den Wind, der ihm in den Ohren heulte. Er war noch zu weit vom Boden entfernt, um irgendetwas erkennen zu können. Zum ersten Mal im Leben fühlte er sich völlig blind und schrecklich verwundbar. Er hatte keine Vorstellung, wo sich Marina befand, keine Idee, ob die Welt überhaupt noch existierte. Er hatte das Gefühl, dass sein ganzer rüttelnder Körper jeden Augenblick auseinander fallen könnte. Im Moment hoffte er nur, dass Goth und Throbb sie aus den Augen verloren hatten und noch um die Berggipfel kreisten.
Er fühlte, wie mit jeder Sekunde die Luft wärmer wurde, wie das Eis auf seinen Flügeln taute, in Tröpfchen perlte und hinter ihm wegströmte. Und dann, ein Schimmer.
Die obersten Äste eines Baumes.
Dann dutzende von Wipfeln, die sich zu einem Wald ausdehnten …
Ein Hügel. Auf allen Seiten Felder.
Er weinte beinahe vor Erleichterung. Die ganze Welt kehrte zurück und malte sich silbern in seinem Kopf. Vorsichtig entfaltete er erst nur die Spitzen der Flügel, stellte sie in den Wind, begann abzubremsen. Dann breitete er sie allmählich immer weiter aus und brachte sich elegant aus dem freien Fall heraus. Er öffnete die Augen und blickte über die wellige Landschaft. Voraus gab es Lichter von Menschen, aber lange nicht so viele wie in der
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