Silberflügel: Roman (German Edition)
der Decke herab. Ihre Augen waren zu bösartigen Schlitzen verengt. Jetzt waren noch mehr von ihnen da. Sie wimmelten über die Wände des Schachts und blockierten den Fluchtweg der Fledermäuse.
„Hier lang!“, rief Marina und flog weiter in den Tunnel hinein.
„Eindringlinge!“, riefen ihnen die Ratten hinterher. „Wir kriegen euch. Ihr kommt hier nicht raus!“
Die Ratten begannen mit ihren Krallen laut an die steinernen Wände zu klopfen, tap taptap tap taptaptap . Das Geräusch pflanzte sich hinter Schatten und Marina und über sie hinaus weiter fort. Dadurch wurden die anderen gewarnt, erkannte Schatten erschrocken.
„Da sind noch mehr“, sagte Marina plötzlich. „Da vorn. Ich kann sie hören.“
Schatten warf einen Klangblick den langen Tunnel entlang, und das silberne Bild von einem Dutzend Ratten kam zu ihm zurück. Es waren Tiere mit glattem Rücken, die durch den Schlamm rannten, über die Wände, an der Decke entlang. Seine Flügelschläge wurden zögernder. Sie würden abgeschnitten werden, wenn sie weiterflogen. Aber nicht weit von der Stelle, wo sie waren, zweigte ein enges Rohr schräg nach unten ab.
„Hier lang“, sagte er heftig.
Das Rohr war zu eng, um darin fliegen zu können. Sie konnten sich gerade hintereinander auf allen vieren hineinzwängen. Wasser sprudelte an ihren Krallen vorbei. Und die ganze Zeit kam durch die Wände das tap taptaptap tap tap . Wie viele Ratten gab es hier unten? Alles in ihm sträubte sich instinktiv dagegen, weiter unter die Erde zu gehen. Er konnte jeden Zentimeter fühlen, den sie tiefer hinabkamen, immer weiter weg von der Oberfläche, vom Himmel.
Das Tappen vieler krallenbewehrter Füße folgte ihnen.
„Schnell, schnell“, forderte er Marina über die Schulter auf.
Das Rohr öffnete sich und er drängte so ungestüm hindurch, dass er an seinem Ende hinaustaumelte und in schmutziges Wasser plumpste.
Er kam wieder hoch, schnappte erschrocken nach Luft und peitschte die Flüssigkeit mit den Flügeln. Neben ihm bemühte sich Marina ihren Kopf über Wasser zu halten. Sie waren nicht weit vom Ufer und es gelang ihnen, unbeholfen zu hartem Fels hinüberzupaddeln. Sie waren durchgeweicht und zitterten.
Sie befanden sich in einem weiten runden Tunnelraum, der zur Hälfte mit tiefem Wasser gefüllt war, nicht dem trägen Rinnsal des oberen Tunnels, sondern mit schnell fließendem. Schatten betrachtete es, wie es dunkel glänzend an ihm vorbeiströmte.
„Was nun?“, fragte Marina und blickte ängstlich in das Rohr zurück. „Sie werden bald kommen.“
Für einen kurzen Augenblick wünschte Schatten, er wäre Goth. Er wünschte, er hätte gewaltige Zähne, die er blecken könnte, riesige Flügel, die er ausbreiten und mit denen er auf seine Feinde einschlagen könnte.
„Komm mit“, sagte er verbissen und eilte am Rand des Tunnels eng an der gewölbten Steinwand weiter. Es muss einen Gang geben, der nach oben führt, es muss einen Ausweg geben, irgendwo …
Aber irgendetwas kam ihnen entgegen, kein Tier, sondern ein Gegenstand, der auf dem Wasser schwamm. Um eine Biegung im Tunnel kam ein Floß, ein großes, gezacktes, viereckiges Stück Holz. Auf beiden Seiten konnte Schatten Ratten erkenen, die nebenher schwammen und es steuerten. Und oben auf dem Gefährt waren weitere Ratten, die das Wasser absuchten.
„Dort!“, rief eine von ihnen. „Schneller!“
Schatten drehte sich zu dem Floß hin. Es kam so schnell heran und er war zu müde, um wegzukriechen oder wegzuschwimmen. Mit Marina neben sich sah er zu, wie das Floß rasch auf sie zukam.
Hoch über der Stadt kreiste Goth und hielt Ausschau nach Schatten und Marina.
„Sie können nicht ewig da unten bleiben“, sagte Throbb.
„Wenn sie an die Oberfläche kommen, sehen wir sie.“
Goth ärgerte sich, dass die beiden ihm entkommen waren. Er schaute zu Throbb und überlegte, ob er ihn beißen sollte, um in bessere Stimmung zu kommen. Er hoffte, dass Schatten und Marina wieder an der Oberfläche auftauchen würden und er zur richtigen Zeit am richtigen Ort wäre, um sie zu entdecken.
Am Rande der Stadt sah er riesige Haufen menschlichen Abfalls. Sogar in der frostigen Luft konnte seine empfindliche Nase den beißenden Geruch verwesender Nahrung ausmachen. Abfall bedeutete Ratten. Jede Menge davon.
„Wir werden da drüben fressen“, sagte er zu Throbb. „Und auf sie warten.“
– 19 –
Romulus und Remus
Das Floß glitt durch das Wasserlabyrinth der unterirdischen Tunnel. An
Weitere Kostenlose Bücher