Silberlicht
beiden Schreibfehler grün angestrichen und nicht weiter kommentiert.
»Das wirst du wohl noch einmal machen müssen«, sagte ich.
Er lächelte mich an. »Ich brauche eine Tutorin«, flüsterte er.
»Wie bitte?« Das Mädchen vor ihm drehte sich genervt zu James um.
Ich entschuldigte mich und begann, ein wenig durch den Raum zu spazieren, erst an der hinteren Wand entlang, dann an den Fenstern vorbei. Schließlich stellte ich mich neben Mr. Brown, der eine Zusammenfassung einer Dickens-Erzählung zum Besten gab, bevor die Schüler den Text der Reihe nach vorlesen mussten. Ich wusste, dass James mich beobachtete, doch ich schaute ihn nicht an. Ich wollte einfach nur einen Moment ganz still bei meinem Bewahrer sein. Ich schwebte hinter ihm und hörte einem Mädchen zu, das mit ausdrucksloser Stimme die Geschichte eines Jungen herunterleierte, der unter einem Baum in den Armen seines Cousins starb. Als Nächstes war James an der Reihe. Er las nicht wie die anderen. Er verstand die Worte. Seine Stimme klang so wahr, so ehrlich, dass sie in mir nachhallte. Ich musste den Raum verlassen.
Draußen wartete ich bei dem Baum, hinter dem ich mich schon einmal versteckt hatte. Schließlich strömte Mr. Browns Klasse aus dem Gebäude heraus. James wirkte voller Leben und hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem farblosen Wesen, das er am Tag unserer ersten Begegnung noch gewesen war. Er kam mit wehendem Haar auf mich zu, seine grüne Tasche über die Schulter geworfen. Er blieb unter dem Baum stehen, und während er sich bückte und so tat, als müsse er einen Schnürsenkel zubinden, ließ er die Tasche auf den Boden gleiten.
»Komm mit mir, nur für einen Moment«, sagte er leise, ohne aufzusehen. »Siehst du nicht, dass ich vor dir knie?«
Ich schwieg.
»Du bewegst dich doch frei auf dem Schulgelände«, sagte er. »Du musst nicht im selben Raum wie dein Bewahrer bleiben, oder?«
Sich ganz frei bewegen zu können klang verlockend.
»Nun gut, begleite deinen Professor auf Schritt und Tritt, wenn du musst«, seufzte er und stand auf, mied jedoch meinen Blick. »Ich gehe in die Bibliothek.« Er schwang sich seine Tasche wieder über die Schulter. »Solltest du Bibliotheken nicht mögen, kann ich das natürlich verstehen.« Mit diesen Worten ging er den Weg entlang und mischte sich unter die anderen Schüler.
Das ließ ich nicht auf mir sitzen. Bis auf die Bibliothekarin und einige Mäuse verbrachte ich mehr Zeit in der Schulbücherei als jeder andere. Selbstverständlich folgte ich ihm.
Ich schwebte am Pult der Bibliothekarin vorbei und zwischen den großen Tischen hindurch, von denen immer drei in einer Reihe standen, doch James war nicht zu sehen. Ich suchte eine Bücherregalreihe nach der anderen ab, bis ich ihn schließlich fand, wie er an einem kleinen Tisch im hinteren Teil des Raumes auf mich wartete. Vier Stühle standen dort. James sah zu mir auf und nahm seine Büchertasche von dem Stuhl neben ihm.
In der Bibliothek war es ruhig, aber nicht totenstill. Man hörte leises Flüstern, vorsichtige Schritte, das Quietschen von Rädern im benachbarten Gang. Ich setzte mich. Wir waren allein.
»Erzähl mir alles über dich«, wisperte er. »Ich will alles wissen.«
»Ich dachte, du wolltest, dass ich dir beim Schreiben helfe.«
»Erzähl mir von deinen Bewahrern. Du hattest bestimmt mehrere. Waren das alles Männer? In welchen Städten hast du gelebt?«
»Wir haben keine Zeit«, sagte ich.
»Na gut.« James nahm seinen Block aus der Tasche und riss ein unbeschriebenes Blatt heraus. »Eine ganze Seite«, sagte er laut. »Beschreibende Prosa.«
»Sch«, warnte ich ihn.
»Über die Bibliothek«, flüsterte er. Er zog den Bleistiftstummel aus der Tasche und ließ ihn über dem Blatt schweben.
»Willst du wie Mr. Blake schreiben oder wie du selbst?«, fragte ich.
Er schrieb und sprach die Worte dabei leise mit. »Ich bin in der Bibliothek. Es riecht nach alten Dingen.«
»Es riecht vertraut«, schlug ich vor. »Es riecht nach Worten.« Diesmal konnte ich seinen Stift nicht mit meiner Hand führen, weil James mir seine linke Seite zugewandt hatte.
»Bücher sind langweilig«, sagte er, während er schrieb.
»Sie säumen die Wände wie tausend lederne Türen, die sich in unbekannte Welten öffnen«, bot ich an.
Er dachte darüber nach und schrieb dann mit einem Lächeln: »Ich hasse Bücher.«
»Ein Meer von Träumen, gefangen in einer Weite aus gebundenen Seiten«, sagte ich.
»Nun denn«,
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