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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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schämte ich mich für mein übermächtiges Verlangen nach Trost. Ich saß wieder an dem Tisch in der letzten Reihe, James nahm neben mir Platz. Mr. Brown blätterte durch seine Unterlagen. Er zog ein Blatt hervor und studierte aufmerksam Vorder- und Rückseite.
    »Hört mal her«, sagte er schließlich. »Ich habe hier ein sehr schönes Beispiel für einen deskriptiven Prosatext.« Laut las er vor: »Die Bibliothek riecht nach alten Büchern – tausend lederne Türen in andere Welten.« Mr. Brown unterbrach sich und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und lange auf James ruhen. »Es ist so still wie der Geist Gottes. Ich fühle eine Präsenz auf dem leeren Stuhl neben mir. Die Bibliothekarin beobachtet mich misstrauisch. Doch die Bibliothek ist ein heiliger Ort, und ich sitze neben der Schutzheiligen der Leser.« Mr. Brown starrte einen Moment schweigend auf die Seite und las dann weiter: »Pulsierendes göttliches Licht bewegt sich durch mich hindurch wie …« Mr. Brown machte abermals eine Pause. »… wie ein flüchtiger Moment der Ewigkeit, der sofort vergessen ist. Sie ist weg. Ich schmecke Moder, ich höre das Ticken der Uhr, ich sehe einen leeren Stuhl. Fragt ihr mich jetzt, werde ich sagen, dass dies einfach nur ein Ort ist, an dem man keine Musik hören und nicht essen darf. Sie ist weg. Die Bibliothek nervt total.«
    Zwei Jungen lachten, leise und halbherzig, doch das Geräusch wurde von der Stille des Raumes verschluckt. Mr. Brown blickte immer noch auf das Blatt in seiner Hand, auch wenn er bereits jedes Wort darauf vorgelesen hatte. Vielleicht starrte er auch auf die weißen Stellen dazwischen. Ich wandte mich zu James um, der auf seine Hände herabsah. Schließlich legte Mr. Brown den Text bedächtig auf seinen Schreibtisch.
    »Warum war das eine gute Beschreibung?«, fragte er die Klasse.
    »Weil die Bibliothek echt total nervt«, prustete ein Junge an einem der vorderen Tische.
    Mr. Brown ignorierte das Kichern und blickte beinahe ehrfürchtig in die Gesichter, als hätte er seine Schüler – oder etwas gleichsam Faszinierendes – noch nie zuvor gesehen.
    In der ersten Reihe hob ein Mädchen zögerlich die Hand. Mr. Brown nickte ihr zu. »Weil er gesagt hat, wie es in der Bibliothek riecht und was man gehört hat, und nicht nur, wie es dort aussieht?«, schlug sie vor.
    »Gut«, sagte Mr. Brown fast lachend. »Warum noch?«
    James war mittlerweile tief in seinen Stuhl gesunken, wie um der Aufmerksamkeit zu entgehen. Und das, obwohl Mr. Brown ihn mit keinem Wort erwähnt hatte. Ich beugte mich zu ihm hinüber, wollte ihm ein paar Worte ins Ohr flüstern, doch als meine Lippen sich seiner Schläfe näherten, konnte ich mich nicht zurückhalten. Eine Hand auf seiner Brust, küsste ich ihn sanft auf die Braue.
    Zu meiner Überraschung atmete James scharf ein und krümmte sich auf seinem Stuhl. Seine linke Hand zuckte zu der Stelle, wo ich ihn berührt hatte. Erschrocken wich ich zurück, wusste ich doch nicht, ob sein Gesicht Schmerz, Angst oder Verzückung ausdrückte. Obwohl ich merkte, dass James meinen Blick suchte, eilte ich schamglühend aus dem Raum und versteckte mich hinter der offen stehenden Tür. Ich konnte Mr. Browns Stimme hören und versuchte, mich von ihrem vertrauten Klang beruhigen zu lassen.
    »Wir haben also Aussehen, Klang, Geruch, Vergleiche, Metaphern und Gefühle. Gut.«
    »Wer hat das geschrieben?«, rief ein Junge.
    »Wenn der Verfasser es nach dem Unterricht kundtun will, wird er oder sie es sicher tun«, antwortete Mr. Brown.
    Dann tat ich etwas sehr Kindisches. Ich lief aus dem Gebäude und flüchtete mich zu meinem Baum. Doch ich setzte mich nicht etwa hinter den Stamm oder daneben, wo James mich suchen würde, sondern hoch oben ins Geäst. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken.
     
    Als Mr. Brown das Schulgelände verließ, blieb ich dicht neben ihm. Wäre ich aus Fleisch und Blut gewesen, kein Lichtstrahl hätte zwischen uns Platz gefunden. Ich klammerte mich an ihn wie ein Baby an die Röcke seiner Mutter. Im Auto setzte ich mich zu ihm nach vorne, was ich sonst nie tat. Normalerweise blieb ich auf dem Rücksitz. Als Mr. Brown den Motor anließ, sah ich, wie James auf sein Mountainbike stieg. Ich berührte Mr. Browns Arm.
    »Folge ihm«, sagte ich. Als Mr. Brown nach Süden fuhr anstatt nach Norden, wusste ich, dass er mir gehorchte. Wir fuhren hinter dem Fahrrad her, das sich einen Block vor uns befand. Als James an einer roten Ampel hielt und

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