Silberlicht
Ich drückte gegen die Kälte, und sie zersprang in unordentliche Stücke, die eisigen Schauer rannen mir wie Regen über das Gesicht. Ich hatte keine Stimme, mit der ich hätte rufen können. Ich kämpfte mich durch den Schlamm, hörte Schüler lachen, Busse, das Scheppern von Mülltonnenabdeckungen. Ich fühlte Zement unter meinen Füßen, dann wurde die Dunkelheit von hellem Weiß durchbrochen. Ich saß auf dem Rücksitz von Mr. Browns Auto, die Sonne blendete mich im Rückspiegel.
Den ganzen Abend umschwebte ich Mr. Brown und seine Frau, während sie zusammen Abendessen kochten, Fernsehen schauten, Rechnungen prüften, lasen und sich später im Bett unterhielten. Nachdem sie das Licht gelöscht und es sich eng umschlungen bequem gemacht hatten, stoppte mich Mr. Browns Stimme, als ich gerade durch die Wand in den Garten gleiten wollte.
»Ich habe eine Idee für einen Babynamen.«
»Für einen Jungen oder für ein Mädchen?«, fragte sie.
»Erin«, erwiderte er. »Das geht für beide.«
Ich hatte sie bislang nie über Kinder reden hören, außer als entfernte Möglichkeit, als sie sich damals kennengelernt hatten. Die Vorstellung erschreckte mich. Ich merkte, dass sie diese Unterhaltung schon viele Male geführt haben mussten, wahrscheinlich, wenn ich ihnen Zeit allein im Bett gelassen hatte. Alle meine früheren Bewahrer waren kinderlos gewesen. Kinder hatten mich nie angezogen, aber auch nicht abgestoßen, wenn ich ihnen in Zügen oder Parks begegnete oder sie bei Freunden meiner Bewahrer in den Kinderzimmern lachen hörte. Doch dies war etwas anderes. Dies wäre das Fleisch und Blut meines Bewahrers. Ein Kind in jedem meiner Räume, in jeder Stunde meines Daseins.
»Wie geschrieben?«, fragte Mrs. Brown
»A I R O H N G«, buchstabierte er.
Sie lachte im Dunkeln.
»Stilles G«, erklärte er.
Ich verharrte in vollkommener Stille, halb in der Schlafzimmerwand, halb im Zimmer.
»Vielleicht für ein Mädchen«, meinte sie. »Hast du noch andere Jungennamen?«
»Chauncey.«
Mrs. Brown lachte wieder. »Wir werden ganz schön Geld für Karatestunden blechen müssen, damit er nicht jeden Tag verprügelt wird.«
»Okay, wie wäre es mit Butch?«, fragte Mr. Brown. »Für ein Mädchen.«
Es war dunkel, doch ich sah, wie er ihr Lachen mit einem Kuss erstickte.
»Dann lass uns mal loslegen«, sagte sie.
»Ich dachte, du wolltest noch warten, damit du nicht genau im Sommer zum Walfisch wirst?«
»Das ist mir egal, solange du mich dann von vorn bis hinten bedienst.«
Ich floh vor dem Rascheln der Bettdecken und schwebte ins Wohnzimmer. Etwas Stärkeres als Logik zerrte an mir. Ich trieb ruhelos durch die anderen Räume, brachte Vorhänge unabsichtlich zum Flattern oder eine Bodendiele zum Knacken. Ich war ein Panther in einem Käfig. Ich saß auf ihrem Dach und starrte zu den Sternen empor, doch ich konnte meine Angst nicht in Worte fassen. War es das instinktive Wissen, dass ein Säugling meine Gegenwart bemerken würde? Der Gedanke verschloss mir die Kehle. Würde ein Baby Angst vor mir haben? Eine Stimme tief in meinem Inneren sagte, ja, du bist eine Gefahr für Kinder. Mit einem Mal erkannte ich, dass ich mich in Mr. Browns Haus nicht länger willkommen fühlte. Ich war ein Eindringling. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob die Häuser meiner früheren Bewahrer ein Zuhause für mich gewesen waren, doch stattdessen sah ich das scheußliche Aufblitzen einer Kellertür und ein Regal voller Körbe. Ich floh ins Auto, weil ich dachte, dass ich mich dort sicherer fühlen würde. Doch als ich in der Garage war und mich auf den Rücksitz kauerte, begann ich zu weinen. Ich weinte einen wasserlosen Strom, schluchzte ohne Erleichterung. Ich überlegte, in das Klassenzimmer oder die Bibliothek zu fliehen, doch ich wusste, dass ich dazu nicht in der Lage sein würde. Sie waren zu weit entfernt. Ich konnte nicht allein dorthin gehen. Ich war eine Gefangene und weinte knochentrockene Tränen bis zum Morgengrauen.
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Kapitel 4
A m nächsten Morgen wollte ich Mr. Brown eigentlich beim Schreiben zusehen, doch während ich um sein Pult herumschwebte, musste ich fortwährend an James denken und an das Baby, das bald die Familie Brown erweitern würde. Als es zum Unterrichtsbeginn läutete, sah ich, dass Mr. Brown ein und denselben Satz so viele Male geschrieben und wieder ausradiert hatte, dass die Seite ganz durchgerieben war.
Als James’ Klasse an diesem Nachmittag zum Unterricht erschien,
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