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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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bemerkte James. »Sollen wir Mr. Blake ein bisschen erleuchteter darstellen?« Das Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, traf mich wie ein Pfeil.
    Er strich die letzten zwei Sätze aus und schrieb: »Bücher sind ganz okay, schätze ich mal.«
    Ich lachte. Dann fuhr er fort: »Ich sehe mich um und erblicke tausend lederne Buchrücken wie Türen in unbekannte Welten.« Er hielt inne. »Es ist …«
    »Still«, schlug ich vor. »Ewigkeit.«
    »So still wie der Geist Gottes«, formulierte James. Er lachte kurz auf und schrieb dann weiter: »Ich fühle …« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Eine Präsenz auf dem leeren Stuhl neben mir.«
    »James«, schalt ich.
    »Aber es ist wahr«, flüsterte er.
    »Was denkt Mr. Blake wirklich über die Bibliothek?«, fragte ich ihn.
    »Nach dem, was ich mir bisher zusammengereimt habe, fühlt er sich hier überhaupt nicht wohl, weil es keine Musik gibt und man nicht essen darf«, antwortete James.
    »Ich sollte gehen«, sagte ich. Ich konnte fühlen, wie sich Mr. Brown zum Aufbruch bereitmachte, in der Halle stehen blieb und mit einem Kollegen sprach. Wenn ich mich nicht beeilte, würde er ohne mich abfahren. Panik jagte meinen Rücken hinauf. Mir blieben nur ein paar Minuten, nicht mehr.
    »Wir haben gerade erst angefangen«, protestierte James. »Du kannst mich nicht schon wieder verlassen.«
    »Nun gut, aber dann sei ernsthaft bei der Sache«, sagte ich. Ich versuchte, seine rechte Hand zu greifen, um den Stift zu führen, doch er lachte nur und wich mir aus. »Haben Sie einen Vorschlag, Miss Helen?«
    »Hör auf«, flüsterte ich.
    James blickte mir in die Augen, um sich zu vergewissern, dass ich nicht wirklich verärgert war. »Warum flüsterst du?«, flüsterte er.
    »Weil eine Bibliothek ein heiliger Ort ist«, beschied ich ihm.
    »Die Bibliothek«, schrieb er, »ist ein heiliger Ort.«
    »Du sollst doch Mr. Blake sein«, erinnerte ich ihn. »Schreib wenigstens hier und da ein Wort falsch.«
    James überlegte kurz, radierte dann das Wort »heilig« aus und ersetzte es durch »heillig«.
    Ich konnte spüren, wie sich Mr. Brown an das äußerste Ende meiner Reichweite bewegte. Schmerz krallte sich in meine Knochen, doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich sehnte mich nach mehr Zeit mit James. Doch ich wusste auch, dass es wichtig war, mich nicht von meinem Verlangen leiten zu lassen, wie damals, als ich während des Shakespeare-Stückes beinahe von meinem Bewahrer getrennt worden war.
    »Ich breche jetzt auf«, sagte ich.
    »Sie droht, ihr pulsierendes, göttliches Licht von diesem Ort zu nehmen«, schrieb er. Seine Frotzelei bezauberte mich. Als ich wieder nach dem Stift griff, versteckte er seine Hand unter dem Tisch und lachte über meinen frustrierten Gesichtsausdruck. Ein weiterer eisiger Schauer ließ mich zurückprallen.
    »Wenn du eine Idee hast, lass sie hören.« Er betrachtete mich und musste den Schmerz in meinen Augen gesehen haben, denn sein Lächeln erstarb.
    »Scheiße noch mal, was machst du denn?«
    Wir blickten auf. Ich versteifte mich, wollte instinktiv eine Waffe auf die Stimme richten. Doch es war nur ein Junge mit einer Narbe auf der Wange, der eine fleckige Army-Jacke trug. Er blickte James stirnrunzelnd an. »Was machst du hier, bist du jetzt ein Schizo, oder was?«
    »Hi«, sagte James und atmete langsam aus. Er schob das Papier vom Tisch und steckte es zusammen mit dem Stift in seine Tasche, als sich der Junge auf dem Stuhl uns gegenüber niederließ.
    »Wo bist du gewesen?«, fragte er barsch. »Kennst uns wohl nicht mehr.«
    »Ich hatte die Grippe«, sagte James. »Hab mir tagelang die Seele aus dem Leib gekotzt.«
    »Grady hat gesagt, du hättest ’ne Überdosis erwischt«, sagte der Junge und musterte seinen Freund von oben bis unten, wie um herauszufinden, weshalb er mit einem Mal so anders wirkte.
    »War nahe dran«, erwiderte James.
    Ich stand auf und begann langsam davonzuschweben. Ich konnte das Flattern spüren, als ich durch James hindurchglitt. Er hatte seinen Arm ausgestreckt und tat so, als müsse er sich dehnen. Wir waren einer Berührung so nahe, wie es ein Geist und ein Sterblicher nur sein konnten. Ich stellte mir vor, wie ich meine Arme um ihn legte, wurde jedoch abrupt von einer Wand aus Kälte gestoppt. Blind tastete ich meine Umgebung ab und spürte nasse Erde, den Schleim eines undichten, schmutzigen Kellers oder den Grund eines Grabes. Ich hatte erlaubt, dass Mr. Brown mich zurückließ.

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