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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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neben mir. Schließlich schwebte ich zu ihm nach hinten. Mr. Browns Stimme erklang, und ich blieb vor James stehen.
    »Mr. Blake?«, fragte Mr. Brown.
    James hatte zu mir nach oben gelächelt. Jetzt sah er durch mich hindurch oder versuchte es zumindest. Ich plusterte mich auf vor Freude. Die Vorstellung, dass ich ihm die Sicht versperren könnte, gefiel mir. Er musste sich ganz nach links lehnen, um an mir vorbeisehen zu können. »Sir?«
    »Alles in Ordnung?«, fragte Mr. Brown. Diverse leere Tische standen zwischen ihm und dem nächsten besetzten Stuhl.
    »Klaustrophobie«, erwiderte James.
    Mr. Brown schüttelte den Kopf und fuhr mit dem Unterricht fort. Ich setzte mich an den freien Tisch zu James’ Rechten. Er sah nach vorn, als ob er den Ausführungen zur Unterscheidung von Adjektiven und Adverbien lauschte, griff dann in meine Richtung und zog meinen Tisch neben seinen. Das ohrenbetäubende Scharren ließ Mr. Brown irritiert innehalten, und diverse Köpfe flogen zu uns herum. James saß ruhig da, die Hände auf seinem Buch gefaltet, einen leeren Tisch neben sich. Als Mr. Brown wieder anfing zu sprechen, zog James dasselbe Blatt Papier aus dem Buch, auf dem er am Tag zuvor schon geschrieben hatte, und drehte es um. Er holte einen kümmerlichen Bleistiftstummel aus der Hosentasche und schrieb: »Wie lange bist du schon Licht?«
    »Einhundertunddreißig Jahre«, antwortete ich flüsternd, auch wenn mich sowieso niemand hören konnte.
    »Wurdest du hier geboren, oder starbst du hier?«, fragte er leise, doch nicht unauffällig genug. Das Mädchen, neben dem er normalerweise saß, drehte sich um und starrte ihn an.
    »Schreib«, flüsterte ich.
    »Was also?«, schrieb er und drehte das Papier zu mir, auch wenn es nicht notwendig war. Ich war so dicht neben ihm wie eine Katze vor einem Mauseloch, bereit, mich auf jedes seiner Worte zu stürzen.
    »Weder noch«, flüsterte ich.
    Er sagte laut: »Aber warum …«
    »Mr. Blake?«, unterbrach ihn Mr. Brown. Dieses Mal drehten sich sowohl das Mädchen als auch der Junge vor uns um und sahen ihn stirnrunzelnd an.
    James schnellte empor. »Sir!«
    »Möchten Sie uns vielleicht etwas mitteilen?«
    »Um nichts in der Welt.«
    Mit meiner Hand berührte ich die Finger von James’ rechter Hand, die den Bleistiftstummel hielt. Er gab ein nahezu unhörbares Geräusch von sich, ein schwaches Einatmen, und sah auf meine Hand hinunter. Ich legte meine Finger um die seinen. Aus irgendeinem Grund, vielleicht weil es James war, der den Körper dieses Jungen füllte, glitten sie nicht durch ihn hindurch. Ganz zart konnte ich seine Hand halten. Ich wünschte, ich könnte auch den Bleistift greifen. Ich empfand das schwindelnde Gefühl des Fallens, das mich immer überkam, wenn ich Lebende berührte, doch dieses Mal war es anders. Ich konnte seine Gewissheit spüren, dass meine Hand dort ruhte. Ich konnte spüren, wie er meine Finger ansah. Ich konnte spüren, wie er dachte: Mein Gott, ich kann sie fühlen.
    Die Nachmittagssonne lag warm wie Flammen auf seinem Gesicht. Er hielt den Atem an. Beruhigend legte ich meine andere Hand auf seine Schulter und strich seinen rechten Arm hinunter bis zu seiner Hand. Er ließ zu, dass ich die Spannung von ihm nahm, und als sein Widerstand erlahmte, begann ich sanft seine Hand zu bewegen. Er atmete wieder, und ich merkte, wie sein Herz schlug. Er blickte auf das Wort, das er geschrieben hatte. Das ich geschrieben hatte: »Schreib.«
    »Mein Gott«, flüsterte er.
    »Sch«, warnte ich ihn, als ich seine Hand losließ.
    Er sah sich im Klassenzimmer um, doch niemand beobachtete ihn.
    »Das war wunderbar«, schrieb er. Dann wartete er, leicht zitternd, den Stift in der Hand, bereit für mich. Ich legte meine Hand in seine und schrieb: »Wie wahr.«
    »Warum spukst du an diesem Ort?«, antwortete er.
    Wieder nahm ich seine Hand und führte den Stift: »Das tue ich nicht. Ich gehöre zu Mr. Brown.«
    James nahm sich einen Moment Zeit, las die Zeile zweimal und antwortete dann: »Warum?«
    Ich bewegte mich so lange nicht, bis er aufblickte und mir ins Gesicht sah. Schließlich nahm ich seine Hand und schrieb: »Literatur.«
    Zu meiner Überraschung lachte James kurz auf.
    »Warum probieren Sie es dann nicht, Mr. Blake?«, rief Mr. Brown.
    »Sir?« James richtete sich in seinem Stuhl auf.
    »Möchten Sie vielleicht einen Satz mit einem Adverb beisteuern?« Mr. Brown betrachtete ihn skeptisch.
    »Atemlos beobachtete er ihre Hand«, sagte

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