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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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James.
    Mr. Brown blinzelte. »Okay.«
    Als ein Schüler in der ersten Reihe eine Frage stellte und Mr. Brown ihm seine Aufmerksamkeit zuwandte, sah James wieder nach unten auf sein Papier.
    »Er ist mein Bewahrer«, schrieb ich.
    Und James antwortete: »Der Mann hat Glück.«
    »Hast du Billys Geist gesehen, seit du in seinem Körper lebst?«
    James überlegte kurz. Ich beobachtete, wie er den Stift hielt und die letzte Zeile las. Seine Hand war feingliedrig, schmal und mit langen Fingern, gleichzeitig stark wie die eines Farmers, doch unversehrt.
    »Nur einmal«, schrieb er. »Ich dachte, ich hätte in der ersten Nacht, in der ich in seinem Zimmer schlief, für einen Moment gesehen, wie er mich beobachtete.«
    Ich nahm seine Hand und zögerte, bevor ich zu schreiben begann. Ich fragte mich, ob er merkte, dass ich nicht innehielt, um nach Worten zu suchen, sondern weil ich seine Finger noch einen Moment länger spüren wollte. Ich schrieb: »Hat er mit dir gesprochen?«
    »Leider nein.«
    Wieder übernahm ich die Kontrolle über seinen Stift. »Du gehst also am Abend zu Mr. Blakes Familie nach Hause?«
    Ich wartete kurz, bevor ich seine Finger losließ. Seine Augen blickten auf das Blatt, und er schrieb: »So ist es.«
    Am untersten Rand der Seite notierte ich: »Kein Platz mehr.«
    Er runzelte die Stirn und wühlte so hektisch in seiner Tasche nach einem Block, dass ich dachte, das Blatt würde in die nächste Reihe fliegen. Er riss eine neue Seite heraus, legte sie hastig auf den Tisch und schrieb: »Entschuldigung.«
    Ich lachte.
    »Mr. Blake, Sie scheinen heute sehr viel mitzuschreiben«, sagte Mr. Brown. »Könnten Sie uns noch ein Adverbialbeispiel nennen?«
    James starrte ihn an.
    »Verzweifelt hoffen«, flüsterte ich.
    James atmete tief durch. »Dankbar glauben.«
    »Nun«, sagte Mr. Brown, »Klaustrophobie hat Ihre grammatikalischen Fähigkeiten offensichtlich verbessert.«
    »Jawohl Sir, Captain Sir!«
    Die Klasse lachte.
    »Rührt Euch, Mr. Blake.«
    »Helen«, schrieb James auf das Blatt.
    Ich war fasziniert vom Anblick des Wortes. Ein Bild huschte für einen kurzen Moment an meinem inneren Auge vorbei – »Für Helen«, in verblassender Tinte auf der Vorderseite eines schmalen, ledergebundenen Büchleins.
    »Geh nicht mit Mr. Brown«, schrieb James. »Komm mit mir.«
    Ich las die Worte, und diesmal nahm ich nicht gleich seine Hand. Als ich seine Finger schließlich doch berührte, merkte ich, dass er mein Zittern fühlen konnte und meine Antwort wusste, bevor ich sie niedergeschrieben hatte. »Ich habe Angst, meinen Mr. Brown zu verlassen.«
    Unsere Finger waren immer noch ineinander verschlungen, als James antwortete: »Aber du hast doch sicher früher auch schon neue Bewahrer gefunden?«
    Der junge Mann am Pult vor James drehte sich um, schätzte die Entfernung zwischen ihnen ab und zielte mit einem Papier, das er in der Hand hielt, in unsere Richtung. Es landete auf dem Gang. James bückte sich, um es aufzuheben. Es war ein liniertes Blatt, zerknittert und an einer Ecke eingerissen. Am oberen Rand stand, in einer Handschrift, die nicht James’ war: »W. Blake, 4 . September, 11 . Klasse, Englisch.« Ich sah ein paar unordentliche Zeilen in schwarzer Tinte. Unten hatte Mr. Brown in Grün dazugeschrieben: »Fünf von zehn Punkten. Die Anweisung war, eine ganze Seite deskriptiver Prosa zu schreiben. Um die volle Punktzahl zu erhalten, wiederholen Sie die Aufgabe bitte und reichen Sie sie nach.«
    James sah sich um. Niemand schenkte uns Beachtung. Die anderen Schüler besahen sich ihre benoteten Texte, die sie gerade zurückbekommen hatten, Mr. Brown teilte die letzten Papiere aus. James flüsterte peinlich berührt: »Das war vor meiner Zeit.«
    Es war eine seltsame Vorstellung, dass Billys Körper vor gerade mal zwei Wochen in diesem Klassenzimmer gesessen und mir vollkommen gleichgültig gewesen war. Jetzt zog derselbe Körper – weil James ihn besaß – meine Augen an, wie es nur der Mond an einem sternenlosen Himmel vermochte.
    James las die Fünf-Punkte-Arbeit mit müdem Gesichtsausdruck. Ich beugte mich über seine Schulter, um zu sehen, was Mr. Blake geschrieben hatte:
     
    »Ich beschreibe die Schulbibliothek, wo ich gerade sitze. Es stinkt hier irgendwie nach alten Sachen. Die Bibliothekarin beobachtet mich mistrauisch. Bücher sind langweilig. Ich habe ein Adjetiv und ein Adverb benutzt, ich bin jetzt also froh und haue glücklich von hier ab.«
     
    Mr. Brown hatte die

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