Silberlicht
das Gefühl, als hätte ich etwas verloren oder vergessen, und ich weiß nicht, was es ist, das macht mich ganz verrückt.«
Mrs. Brown beugte sich vor und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Schulter. »Es wird dir schon wieder einfallen.« Dann sagte sie: »Hast du das Paket an meine Schwester aufgegeben?«
»Ja.«
»Wahrscheinlich war es das.«
»So fühlt es sich nicht an«, erwiderte er. »Es ist, als hätte man von jemandem geträumt, ohne sich zu erinnern, was im Traum passiert ist. Ich kann mich nicht erinnern …« Er schwieg. Mrs. Brown streichelte seine Brust, zog sanfte Kreise um sein Herz.
Kurz darauf sagte er: »Was, wenn ich einen Menschen vergessen habe?«
»Wie deinen Lehrer aus der ersten Klasse, meinst du so etwas?«
»Gibt es einen Moment, in dem man etwas für immer vergisst?«
»Nein«, sagte seine Frau. »Dein Gehirn wird nichts verlieren, was es wert ist, bewahrt zu werden.« Spielerisch tippte sie gegen seine Schläfe, und er ließ seinen Kopf zur Seite kippen. »Es ist alles da drin.«
In jeder anderen Nacht hätte er jetzt seine Arme um sie gelegt oder sie gekitzelt. An diesem Abend jedoch richtete er seinen Blick wieder auf die Zimmerdecke. Seine Frau stand auf und sagte: »Kopf hoch, Baby.« Doch er lachte nicht. Stirnrunzelnd sah sie ihn an, während sie ihre Jeans aufknöpfte.
»Vielleicht habe ich meine Muse verloren«, sagte er. »Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe.«
Ihre Augen blitzten auf, eine hitzige Woge erschütterte den freundlichen Fluss ihres Wesens. Eine Schockwelle, die sie vor ihm verbarg, als sie ihm den Rücken zuwandte, um sich weiter zu entkleiden. Sie war bestürzt, und ich wusste, warum. Er hatte die Illusion zerstört, sie sei seine Muse. Sie wusste, dass er verrückt nach ihr war, doch jetzt fürchtete sie, ihm nicht genügen zu können. Langsam faltete Mrs. Brown ihr T-Shirt und legte es über die Jeans auf den Stuhl vor ihrem Frisiertisch.
»Ich gehe duschen«, sagte sie. Und in jeder anderen Nacht wäre er ihr gefolgt, doch an diesem Abend lag er einfach nur da, den Blick immer noch starr an die Zimmerdecke gerichtet.
Es war meine Schuld. Ich war von einem Stein im Fluss herabgestiegen, bevor ich den nächsten gefunden hatte. Er setzte sich auf, als das Wasser im angrenzenden Bad zu rauschen begann, und sah zum offenen Fenster hin. Er stand auf und kam auf mich zu. Er stützte sich mit den Händen zu beiden Seiten des Fensterrahmens ab und blickte suchend in die Dunkelheit. Eine Brise wehte durch mich hindurch und zerzauste sein Haar. Ich stand nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, und doch war er allein. Es war nicht wie früher, wenn ich mit ihm gesprochen und seine Schulter berührt hatte, allein mit ihm in unserem Klassenzimmer. Er konnte mich nicht mehr fühlen. Wenn ich ihm nur wie die Geister in den Spukgeschichten hätte erscheinen können! Die Sohlen meiner Füße begannen zu Eis zu erstarren.
Ich wich zurück, wollte, dass sich unsere Augen endlich trafen, doch natürlich blieb er blind für mich, und das ertrug ich nicht. Noch nie hatte ich einen Bewahrer verlassen, wenn er nicht im Sterben lag. Ich verlor meinen geliebten Freund. Er würde mit seiner Frau zusammenleben, ohne mich. Ich drehte mich auf dem Absatz um und floh. Schon einmal war ich der Hölle entkommen und hatte es zur Türschwelle meines Bewahrers zurückgeschafft. Ich begann in die, wie ich hoffte, richtige Richtung zu laufen. Als ich den vertrauten Schmerz in meinen Knochen spürte, konzentrierte ich mich auf die Hausnummer, die ich mir eingeprägt hatte, ließ mich wie von einem Kompass von ihr leiten. Siebenhundertdreiundzwanzig. Wieder stieg eisiges Wasser um mich herum in die Höhe, wieder wurde ich in ein schauriges Dunkel hinabgezogen, während über mir Dämonen brüllten und Schlamm meine Kehle verschloss. Ich versuchte, die Mauer aus Dreck niederzureißen, doch sie war fest wie ein Stück Holz, wie die Seite eines roh gezimmerten Sarges. Ich krallte mich an das Brett, bis es in morsche Brocken zerfiel. Wasser schoss mit einem Schrei durch die Planken.
Ein Tier, ein schwarzer Hirsch, ragte über mir auf. Er stand vollkommen still, selbst als der Wind Blätter und Zweige in einem wilden Maibaumtanz um ihn herumwirbelte. Schließlich erkannte ich die Statue. Dahinter konnte ich zwei Schaukeln ausmachen, die ungestüm umhertanzten. Ich war zu schwach, um mich zu bewegen, würde sicher in Stücke geblasen, wenn ich versuchte, mich aufzurichten. Ich
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