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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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gestorben wäre, hat Mitch seine Anlage und den Computer verkauft, um die Kosten für die Notaufnahme zu bezahlen, daher …« Er zuckte mit den Schultern.
    Mein Blick fiel auf ein liniertes Blatt, das gefaltet in der Schatzkiste lag. An den Handschriften erkannte ich, dass es die Seite war, auf der wir unsere Unterhaltung während des Englischunterrichts verewigt hatten. Ich war ganz aufgeregt vor Freude –
ich war Teil seines geheimen Schatzes.
    Dann geschah etwas Merkwürdiges. James sah mich an und erbleichte. Er ging zur Zimmertür, wo er die Sicherheitskette löste. Danach legte er seine Schätze sorgfältig in die Schachtel zurück.
    »Ich fürchte, ich war egoistisch«, sagte er schließlich. »Du musst dich hier wie im Gefängnis fühlen.«
    Er sah mir in die Augen und merkte, dass ich ihn nicht verstand. »Du hast in Mr. Browns Haus in einer Welt aus Büchern, Musik und Gemälden gelebt, nicht wahr? Ich muss wahnsinnig sein zu denken, dass du in dieser Höhle bleiben willst. Es tut mir so leid.«
    Bestürzt sah ich ihm zu, wie er seine Schatzkiste wieder unter das Bett schob.
    »Die ersten Bibliotheken waren Höhlen«, erinnerte ich ihn. »Und die ersten Kunstgalerien ebenfalls.«
    Er errötete, und das schmerzlich gesunde Pfirsichrot seiner Wangen brachte die Farbe zurück in meine Welt.
    »Dennoch, Miss Helen«, sagte er. »Ich habe etwas sehr Böses getan. Ich habe dich von einem gesunden Ort an einen dunklen gelockt, weil ich nicht ohne dich sein wollte. Ich würde es verstehen, wenn du mich nicht erwählst.«
    Die ungewohnte Aufmerksamkeit machte mich keck. »Die unwiderstehlichste Sache in meiner Welt ist es, Sir, von Ihnen gehört und gesehen zu werden.«
    Einen kurzen Moment sah er mich schweigend an. »Dann bin ich Ihnen zu größtem Dank verpflichtet.«
    Die Tür schlug wieder auf, und sein Bruder Mitch lehnte sich in den Raum. »Telefon. Eins von diesen kleinen Arschlöchern ist am Apparat. Gehst du ran?«
    James sprang auf und folgte ihm aus dem Zimmer. Ich blieb allein zurück, umgeben von den bebilderten Wänden. Ich besah mir Billys Kunstwerke über dem Schreibtisch, aus Blöcken herausgerissene Seiten mit Kreaturen, die blutunterlaufene Augen rollten und tropfende Reißzähne fletschten, mit muskulösen Beinen und rauchenden Nasenlöchern. Die Ecken der Bilder bogen sich im leisen Hauch meiner Neugierde. Ein Ausschnitt neben dem Bett zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Eine junge Frau, nur mit einem weißen Baumwollkleid bedeckt, stand unter einem Wasserfall. Ich war erschrocken über die Art, wie der durchsichtige Stoff an ihrem Körper klebte. Ihr Kopf war zurückgelegt, die Augen geschlossen, ihr Mund geöffnet. Ich hatte schon genug Bilder dieser Art auf Jungen-T-Shirts oder Buchumschlägen gesehen, doch es schockierte mich, dass das Foto so nah an James’ Bett hing. Eine glühende Empfindung, Eifersucht ähnlich, stieg in mir auf, doch ich versuchte mir zu sagen, dass es schließlich Billy war, der das Bild aufgehängt hatte, nicht James.
    Als James zurückkam, sah er beunruhigt aus. Er wollte die Tür gerade schließen, als Mitch sie hinter ihm wieder aufschlug.
    »Du gehst heute Abend nirgendwohin«, befahl er.
    »Ich weiß«, erwiderte James, zwischen mir und seinem Bruder stehend.
    »Und ich will den kleinen Scheißkerl hier nicht sehen.«
    »Er wird nicht kommen«, sagte James.
    »Weil du Hausarrest hast, solange ich es sage«, bellte Mitch.
    »Ich weiß«, antwortete James.
    Sein Bruder starrte ihn für einen Moment finster an. »Du musst nicht hier im Zimmer eingesperrt bleiben.«
    »Ich habe Kopfweh.«
    Das Gesicht seines Bruders verdunkelte sich. »Was hast du genommen?«
    »Nichts«, seufzte James frustriert.
    »Wenn du mich anlügst, schlag ich dich windelweich.«
    »Ich lüge nicht. Ich will nur nicht mit deinen Freunden herumhängen.«
    Seltsamerweise schien das den Mann zu beruhigen. Er schüttelte den Kopf und schloss die Tür. James legte wieder die Sicherheitskette vor und ließ sich im Schneidersitz auf dem Bett nieder.
    »Bitte entschuldige«, sagte er und fuhr fort: »Ich muss dich noch so viele Dinge fragen und weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
    »Wie mutig, einer von ihnen zu werden«, sagte ich. »Ich hätte nicht die Courage, es auch nur zu versuchen.«
    Er betrachtete mich lange, wie Mr. Brown, wenn er einen geliebten Textabschnitt las und sich weigerte, die Seite umzublättern, und trotz meines Drängens bei seinen Lieblingssätzen verweilte.
    Die

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