Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
Vom Netzwerk:
blieb auf dem Boden und ließ die Welt über mich hinwegtoben. Meine Hölle und dieser Sturm waren miteinander verbunden.
    Außer dem Heulen des Windes hörte ich nichts, doch ich wusste, dass mich jemand rief. Ich blickte auf und sah eine Gestalt an der Straßenecke stehen. Sie legte eine Hand an den Kopf, vielleicht, um ihre Augen vor dem Wind zu schützen. Doch nein, sie hielt ihr flatterndes Haar zurück und rannte auf mich zu. Als ich sah, dass es James war, versuchte ich, auf die Füße zu kommen, wurde jedoch in die Luft gewirbelt und Teil des irren Tanzes um mich herum.
    Meine Gestalt verfing sich in einem Baum, direkt über James’ Kopf. Von oben sah ich, wie er auf dem Gehsteig stehen blieb und sich suchend umblickte.
    Der Himmel sog mich auf und raubte mir die Sicht. Nur der Wind war da, in meinen Ohren, auf meiner Haut, überall, doch ich dachte immer und immer wieder »siebenhundertdreiundzwanzig«, »siebenhundertdreiundzwanzig«. Schließlich wurde ich auf den Rasen eines kleinen Gartens geschleudert. Der Efeu an der ausgebleichten blauen Holzwand zitterte. James stand neben dem Feigenbaum, der im Wind schwankte. Suchend schaute er die Straße auf und ab, und als er sah, wie ich auf ihn zugekrochen kam, erstarrte sein Blick. Ich kam näher und versuchte verzweifelt, nicht in das schlüpfrige Erdloch hinabgezogen zu werden, das wie ein Strudel an meinen Füßen riss. Ich muss wie ein Monster ausgesehen haben, schlammbedeckt, ins Gras verkrallt. Er reichte mir seine Hand, doch ich wollte ihn nicht mit hinabziehen.
    Er fiel auf die Knie und versuchte mit wachsender Panik, nach mir zu greifen. Schließlich warf er sich auf mich, so dass ich nicht anders konnte, als ihn zu umarmen. Bitte mach, dass er nicht mit mir untergeht, flehte ich. Im nächsten Moment war der heulende Sturm zu einem sanften Säuseln abgeflaut.
    Wartend kniete er neben mir. Als ich meinen Kopf hob, richtete er sich langsam auf und begann, sich rückwärts auf das blaue Haus zuzubewegen, einen Fuß nach dem anderen, wie ein Seiltänzer. Ich erhob mich ebenfalls und konzentrierte mich auf den Wind, der sein Haar zerzauste. Bei den anderen Rettungen war die Vereinigung mit meinem Bewahrer immer eindeutig gewesen. Das hier war anders. Ich folgte ihm, so schwach, als ob alle Farbe aus der Welt geflossen sei. Langsam schritt er rückwärts die Verandastufen hinauf, ich hinterher. Meine Augen hafteten auf seinem Gesicht, ebenmäßig und starr, wie das einer Statue. Er öffnete die Tür und ging mit dem Rücken voran ins Haus. Er bedeutete mir, einzutreten, so wie ich bei Mr. Brown hatte eintreten wollen. James schloss die Tür hinter mir.
    Erst da bemerkte ich den Lärm. Laute Musik, Stimmengewirr und dichte Rauchschwaden erfüllten das kleine, nur schwach beleuchtete Wohnzimmer. Ein Dutzend Männer und Frauen, alle mit Bierflaschen und Zigaretten in der Hand, bewegte sich fluchend und lachend in unsteten, verschwitzten Grüppchen. Abgesehen von einem kräftigen, tätowierten Mann mit bloßem Oberkörper schien sich James nicht sonderlich für die Anwesenden zu interessieren.
    »Wo warst du?«, rief der Mann.
    »Nirgends.« James musste schreien, um den Lärm zu übertönen.
    »Mach deine Hausaufgaben.«
    »Es ist Freitag.«
    »Was?« Der Tätowierte runzelte die Stirn und hielt sich die Hand mit der Bierflasche ans Ohr.
    »Okay!«, brüllte James. Er eilte den Flur entlang und blieb an einer Tür stehen, in der ein baseballgroßes Loch klaffte. Er öffnete sie und wartete, bis ich hineingeschwebt war. Es war ein kleines Zimmer, das von einer trüben Deckenlampe erhellt wurde. Ein riesiges Bett stand darin, viel zu groß für den engen Raum, ein winziger Tisch und ein Stuhl, beide bedeckt mit Zeitschriften, Kleidern und Getränkedosen. Die Wände waren fast vollständig mit Bildern aus Illustrierten verklebt, darunter auch einige größere Fotos, die sogar noch an der Decke befestigt waren. Ein paar zeigten nackte Frauen, andere Gitarren und Musiker, Autos oder in der Bewegung erstarrte Sportler. Die Schreibtischwand verschwand unter unzähligen Comiczeichnungen mit Drachen, Insekten und Monstern. Jedes Blatt war mit BB signiert.
    Trotz des Farbengewirrs wirkten die Wände grau. James beobachtete, wie ich mich umsah. Er schien immer noch zu zittern, auch wenn der Wind nur noch als zahmes Rauschen vor seinem Fenster auszumachen war. Selbst das übermächtige Kreischen der Musik aus dem anderen Zimmer drang nur als gedämpftes Dröhnen zu uns

Weitere Kostenlose Bücher