Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
Vom Netzwerk:
Erinnerung an Mr. Brown und meinen Kampf mit dem Sturm ernüchterte mich augenblicklich. Bei der Vorstellung, heute Nacht allein zu sein, während James schlief, schlug eine Welle der Angst über mir zusammen.
    »Willst du schlafen?«, fragte er, als habe er meine Gedanken gelesen.
    »Hast du geschlafen?«, fragte ich zurück. »Als du ein Geist warst?«
    »Nein«, antwortete er. »Aber bei mir bist du sicher. Ich bin nicht wie die anderen. Ich bin wie du.«
    Er bedeutete mir, zum Bett zu kommen, und ich gehorchte, am ganzen Körper zitternd.
    »Bleib ruhig«, sagte er, als ich mich niederlegte. An der Decke über dem Bett war das einzige Bild im ganzen Zimmer befestigt, das halbwegs zu James zu passen schien. Es zeigte einen Wolf, der, mit Winterfell und im Schutz dunkler Kiefern, seine goldenen Augen auf den Fotografen gerichtet hielt. James holte seine Kiste wieder unter dem Bett hervor und nahm ein Buch heraus.
    »Der Mann, vor dessen Wald ich steh,
    wohnt fern im Dorf, kann mich nicht sehn:
    Er weiß nicht, dass ich haltgemacht
    und schau auf seinen Wald voll Schnee.«
    Ich konnte den Wind draußen hören, James’ Stimme hier im Zimmer, die mich beruhigte. Der Lärm im Haus war abgeebbt.
    Als ich die Augen wieder aufschlug, war das Deckenlicht gelöscht, doch die winzige Lampe neben dem Bett leuchtete schwach wie eine Kerze. James schlief auf dem Boden, eine Jacke als Kissen unter seinem Kopf zusammengerollt. Leise Musik drang zu uns herein. Ich kniete mich neben ihn.
    »Geh zu Bett«, flüsterte ich.
    Seine Augen blieben geschlossen, doch er runzelte die Stirn, als würde er versuchen, eine tote Sprache zu entschlüsseln. Ich beugte mich näher an sein Ohr. »Geh zu Bett, James.« Er rollte sich langsam herum und setzte sich auf, ohne die Augen zu öffnen. Langsam hievte er sich auf die Matratze und sank sofort wieder in den Schlaf. Ich betrachtete sein Gesicht, wunderschön und blassgolden im Licht der Lampe, seine Hände, entspannt, halb geöffnet, seine langen Finger, so still. Ich beobachtete, wie sich seine Brust fast unmerklich hob und senkte. Schließlich streckte ich die Hand aus, um das Licht zu löschen. Doch natürlich war mir das nicht möglich.

[home]
    Kapitel 5
    P lötzlich wurde ich von einem fallenden Gefühl aufgeschreckt, das so stark war, dass ich nach Luft schnappte. Offensichtlich hatte ich neben James im Bett gelegen, und er war im Schlaf durch mich hindurchgerollt. Jetzt stand er mitten im Zimmer und blinzelte in das Licht der aufgehenden Sonne. Wir sahen uns an; James mit zerwühltem Haar und dem Abdruck der Decke auf der Wange, ich noch im Bett, aufgeschreckt, doch unversehrt.
    Mit einer entschuldigenden Geste stahl er sich leise aus dem Zimmer. Ich war fassungslos. Ich hatte geschlafen. Das war fast so seltsam wie das Gefühl, gesehen zu werden. Als James kurz darauf zurückkam, saß ich immer noch auf seiner braunen Decke, zusätzlich verwirrt von der Vorstellung, dass wir im selben Bett geschlafen hatten.
    Er schloss die Zimmertür hinter sich und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Hast du dich etwas ausruhen können?«, fragte er.
    »Wie kann es sein, dass ich geschlafen habe? Das habe ich seit meinem Tod nicht mehr getan.«
    Er wirkte immer noch sehr müde, als er sich neben mich auf die Matratze setzte. »Vielleicht, weil du jetzt nicht mehr allein bist.« Dann zuckte er mit den Schultern. »Das Problem ist, dass Lichtgestalten keinen Mentor haben, der ihnen alles erklärt. Man lernt die Regeln nur, indem man sie bricht.«
    Er rieb sich die Augen, als ob Billys Körper immer noch Schlaf brauchte. Einem plötzlichen Impuls folgend, legte ich meine Hand auf seine Schulter. Er atmete scharf ein, wie schon bei Mr. Brown im Englischunterricht, als ich ihn geküsst hatte. Ich drückte ihn auf die Bettdecke und er sank zwischen die Wand und mich. Als ich meine Hand zurückzog, fragte ich: »Tut dir das weh?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Fühlt es sich kalt an?«
    Er lachte. »Es fühlt sich an wie …« Er dachte nach. »Nein, man kann es mit nichts vergleichen, was ich bisher gespürt habe. Es ist wunderbar.«
    Ich legte mich neben ihn. Im Grunde genommen verhielt ich mich fast schon skandalös, doch es erschien mir so natürlich wie zwei Grashalme, die sich im Wind berühren. Wir lagen Seite an Seite und sahen uns an. James berührte meine geschlossene Hand. Ich öffnete sie, wie eine Blume, die in plötzlicher Hitze aufblüht, und er legte seine Handfläche an meine. Es

Weitere Kostenlose Bücher