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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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so dass ich mit James zur Schule gehen und meinen Mr. Brown sehen könnte. Er ist doch nicht mehr deiner, rief ich mir in Erinnerung. Du hast einen neuen Bewahrer. James. Meinen James.
    Aus dem Flur erklang ein Geräusch. Mitch schlurfte ins Badezimmer. Ich hielt mich auf Abstand und schwebte in die Küche. Neben der Hintertür hingen ein paar Fotos an einer Korkpinnwand. Ein dunkelhaariger, etwa zwölfjähriger Junge hielt einen wohl vier Jahre alten braunhaarigen Knirps kopfüber an den Füßen. Der kleine Junge schrie vor Lachen, und der größere Junge imitierte die triumphierende Pose eines Bodybuilders. Mehr noch als das lachende Gesicht des kleinen Billy ließ mich die leicht verschwommene Frauenhand und das dazugehörige Bein am Bildrand innehalten. Das Gesicht fehlte. Das musste Billys und Mitchs Mutter sein, bereit, ihre Kinder falls nötig aufzufangen. Ihre Hand war ein schwaches Flackern, ihr Bein schlank und entblößt. Sie trug einen weißen Schuh, über dem Knie erkannte man die Ecke eines hellgrünen Rocks.
    »Verdammt«, schimpfte Mitch aus dem Badezimmer. Er schien die Tür offen gelassen zu haben. »Das verfluchte Klo ist kaputt!« Ich hörte ein scharrendes Geräusch, wie Porzellan, das über Porzellan schleift, und dann einen Laut, der mein Innerstes erstarren ließ. Eine animalische Gefahr donnerte durch den Flur. Trotz meiner Angst eilte ich hinterher. Mitch rannte zu James’ Zimmer und trat die Tür auf. James, der gerade dabei war, das Hemd, in dem er geschlafen hatte, aufzuknöpfen, sprang überrascht zurück und stieß dabei ans Bett, so dass er sich hinsetzen musste. Mitch schlug ihm so hart ins Gesicht, dass er nach hinten fiel und mit dem Kopf gegen die Wand prallte. Mitch hielt ihm ein durchsichtiges Tütchen vor die Nase, das mit weißem Pulver gefüllt war, und schüttelte es.
    »Bist du verdammt noch mal verrückt geworden?«, schrie er. »Was zur Hölle ist das?«
    James keuchte. Mit einer Hand betastete er sein Gesicht und versuchte sich aufzusetzen. Mitch schlug erneut zu. Ich schrie auf, doch ich bezweifelte, dass James mich hörte. Er flüchtete an die Wand, Blut tropfte aus seinem Mundwinkel. Mitch schüttelte seine Hand, als sei James’ Gesicht mit Gift besudelt.
    »Ich sollte die verdammten Bullen rufen, jetzt sofort«, brüllte er. »Wenn du dich umbringen willst, dann verzieh dich in eine verfluchte Gosse.« Wut färbte sein Gesicht rot.
    »Es tut mir leid«, sagte James.
    »Leck mich, du kleines Stück Scheiße!« Pulsierende Adern traten in Mitchs Nacken und an seinen Armen hervor. Er streifte im Zimmer auf und ab, das Plastiktütchen fest in seiner Faust zusammengeknüllt.
    »Ich habe dir doch gesagt, dass ich echt total im Arsch war an dem Abend«, sagte James. »Ich kann mich an nichts erinnern.«
    »Du bist ein Haufen Scheiße!« Mitch trat so heftig gegen den Stuhl, dass er durch den Türrahmen in den Flur schlitterte.
    »Das da hatte ich vergessen«, sagte James. »Ich habe nichts mehr genommen, ich schwöre es.«
    Mitch stürmte hinaus. Ich konnte die erschöpfte Stimme des Mannes mit dem Tuch um den Kopf hören, der auf der Couch geschlafen hatte. »Was ist denn los?«
    »Halt die Klappe«, erwiderte Mitch. Das Geräusch von laufendem Wasser drang aus der Küche.
    Wie eine Wolke verzog sich die Wut aus dem Zimmer. Ich sah, wie James vorsichtig seinen Kiefer befühlte und das Blut mit seinem Handrücken abtupfte. Beschämt sah er mich an.
    »Bist du verletzt?«, fragte ich.
    Er seufzte. »Ich bin in Ordnung.« Er erhob sich steif und stellte den Stuhl zurück an den Tisch. Dann sah er mir lange in die Augen. »Es tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Als er merkte, dass sein Hemd offen stand, schloss er den mittleren Knopf.
    »Ich sollte duschen.« Er entschuldigte sich, und ich ließ mich auf das Bett sinken.
    Die Wasserrohre im Haus gurgelten, als die Dusche zu laufen begann. Die Zimmertür öffnete sich, und Mitch kam auf leisen Sohlen herein. Er wirkte nicht mehr ärgerlich, eher verstohlen, wie ein Dieb, und ging direkt auf die Kommode zu, wo er die Schubladen von oben nach unten herauszog, zerknitterte Kleider durchsuchte und abtastete.
    Als Nächstes öffnete er den Schrank und wühlte sich durch die Unordnung auf dem Boden. Er zog ein paar zerschrammte Army-Stiefel hervor, stocherte mit der Hand darin herum und blickte in den Lampenschirm neben dem Bett. Plötzlich drehte er sich um, ging in die Knie

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