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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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begann zu regnen, und das Geräusch hüllte uns wie ein Vorhang ein. Wenn sein Fleisch meinen Geist berührte, glaubte ich nicht mehr zu fallen, sondern zu fliegen. Ich schwebte durch die Zeit auf ihn zu.
    »Warum können wir uns berühren?«, wollte ich wissen. »Mr. Brown hat mich nie gespürt.«
    »Weil du nicht nur Billys Finger berührst«, sagte James, »sondern mich in ihm.«
    Er zog seine Hand zurück und sah sie an. Dann legte er sie an seine Wange und roch an ihr.
    »Du duftest nach Jasmin«, staunte er.
    »Und wieso kannst du mich riechen?«, fragte ich.
    »Geister haben Gerüche«, antwortete er. »Ich denke, es ist ein Überbleibsel aus ihrer Vergangenheit. Wie eine Erinnerung.«
    »Welche anderen Geister hast du gerochen?« Eine lächerliche Welle der Eifersucht durchbrandete mich.
    »Du verstehst nicht. Es gibt zwei Arten von Geistern.« Wieder erfreute er sich daran, das spezielle Wissen mit mir zu teilen, das man offensichtlich beim Diebstahl eines Körpers erwarb. »Es gibt Geister, die wissen, dass sie tot sind, und es gibt solche, die es nicht wissen. Bevor ich in diesen Körper einzog, konnte ich keinen von ihnen sehen.« Er lächelte. »Aber die Einzige, die weiß, dass sie Licht ist, bist du.«
    »Und die, die denken, dass sie noch am Leben sind«, erwiderte ich, »was sagen die?«
    »Nichts«, antwortete James. »Sie können weder mich noch irgendjemand anderen sehen. Nicht einmal ihresgleichen.«
    »Was machen sie dann den ganzen Tag?«
    »Normalerweise wiederholen sie etwas aus der Vergangenheit. Sie gehen von der Schule nach Hause, sie säubern die Fenster eines Gebäudes, das es nicht mehr gibt, sie suchen nach einem Gegenstand oder einer Person, die sie verloren haben.«
    Das hörte sich traurig an. »Wie viele Geister dieser Art gibt es?«, fragte ich. »Kannst du sie jetzt sehen?« Bei der Vorstellung kribbelte meine Haut.
    »Du meinst den Typen da?« James nickte in Richtung des Bettendes. Als ich nach Luft schnappte, lachte er.
    »Das ist nicht lustig.«
    »Du hast recht.« Er unterdrückte ein Grinsen. »Es gibt nicht so viele, wie ich dachte, als ich meinen ersten Geist im Krankenhausflur getroffen habe«, fügte er hinzu. »Seither habe ich nur etwa ein Dutzend oder so gesehen.«
    Obwohl ich wusste, dass sich niemand mit uns im Raum befand, war ich doch etwas verstört von der Vorstellung, jeden Moment einem Geist begegnen zu können.
    »Wo, glaubst du, ist Billy jetzt?«, fragte ich. »Du hast gesagt, du hättest ihn nur einmal gesehen. Er ist also nicht mit seinem Bruder oder dem Haus verbunden.«
    James zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau, aber ich denke nicht, dass er überhaupt an irgendetwas gebunden ist.« Er sah sich die Zeichnungen an den Wänden an. »Vielleicht streicht er durchs Land, wie ein Ausreißerkind.«
    Ich fragte mich, wie es wohl wäre, von Haus zu Haus und von Gesicht zu Gesicht fliegen zu können, nur von meinem eigenen Willen geleitet. Es klang befreiend und gleichzeitig einsam. Ich zog mich in eine Ecke zurück. Zu viel Neues war in zu kurzer Zeit auf mich hereingestürzt. Die Spannung surrte wie ein Insekt um mich herum.
    »Wie viele Bewahrer hattest du?«, fragte James, offensichtlich bemüht, mich abzulenken.
    »Fünf.«
    »Wie hast du sie gewählt?«, fragte er weiter.
    Ich erzählte ihm von meinen Begleitern, erwähnte jedoch nicht, wie glühend ich Mr. Brown um sein Liebesleben beneidet hatte. Allein bei der Vorstellung wollte ich mich wie ein Fächer zusammenfalten und verschwinden.
    »Und jetzt bin ich Nummer sechs«, sagte James.
    »Ja.« Ich fühlte mich immer noch verwirrt. »Ich muss ein wenig allein sein«, erklärte ich ihm.
    »Natürlich.«
    Ich schwebte aus James’ Zimmer hinaus und wanderte durch das Haus. Der Regen war in ein feines Nieseln übergegangen. Im Wohnzimmer schlief ein fremder Mann im Overall und mit einem Tuch um den Kopf auf der Couch, einen Arm über die Augen gelegt. Dosen, Flaschen und zerknülltes Papier bedeckten den Boden und die Möbel. Die Spüle in der Küche war voll mit schmutzigem Geschirr, und der Hahn tropfte. Im zweiten Schlafzimmer schlief Mitch auf seinem Bett, einen Schuh am Fuß, einen am Boden, seine Hosen aufgeknöpft. Abgesehen davon gab es noch ein winziges leeres Badezimmer, in dem das Licht brannte, und eine kleine rückwärtige Veranda, durch deren Dach das Regenwasser auf einen glänzenden schwarzen Sack voll Müll tropfte. Ich wünschte, es wäre nicht Samstag, sondern Montag,

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