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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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auf der hinteren Veranda stopfte.
    »Wenn ich mehr als das an einem Tag mache«, grinste er, »wird Mitch denken, ich hätte den Verstand verloren.«
    Ich beobachtete ihn, wie er seine Schuhe anzog und einen Apfel aus dem Kühlschrank nahm. »Das ist der Nachteil an einem festen Körper«, sagte er, »man muss essen.«
    Ein Nachteil? Ich hatte seit einhundertdreißig Jahren keinen Apfel mehr gegessen. Aber eigentlich hatte ich das bis jetzt auch nicht vermisst. Doch nun nahm ich überdeutlich wahr, wie James krachend in die Frucht biss und der Saft in einem flüchtigen Sprühnebel aufspritzte. Dabei bemerkte ich die rote Prellung an seiner Wange, die ihm sein Bruder zugefügt hatte. Und eine verblassende graue an seinem Kiefer, die mir bisher nicht aufgefallen war.
    Bevor ich meine Hand ausstrecken und die Stelle berühren konnte, wandte sich James um. »Verschwinden wir von hier.« Er verschloss das Haus, und ich folgte ihm über den Rasen unter einen dunklen Himmel, den ein einzelner Sonnenstrahl wie ein mystischer goldener Speer durchbrach, um auf einen unbekannten Ort in der Ferne zu deuten. James kaute an seinem Apfel und verfiel in ein gemächliches Tempo.
    Wir kamen an dem kleinen Park mit der Hirschstatue vorbei, in dem kreischende Kinder schaukelten und Frauen sich an dem Picknicktisch unterhielten. An der Ecke bog James nach links ab und überquerte die Straße. Er warf das Apfelgehäuse auf einen Haufen zusammengerechten Laubs und sah mich an.
    »Wie schnell bist du?«
    Diese Frage hatte sich mir nie gestellt. »Wie schnell warst du, als du noch Licht warst?«
    »Los, machen wir ein Wettrennen«, sagte er grinsend und stob davon. Als er mich am Ende des Blocks stehen sah, lachte er so heftig, dass er anhalten und mit den Händen auf den Knien nach Atem ringen musste. Den Rest der Strecke legte er gehend zurück. Als er bei mir angelangt war, sagte er: »Einmal ist keinmal.« Immer noch schwer atmend, deutete er auf das Baseballfeld einen Block weiter. »Zuschauertribüne, oberste Reihe, westliches Ende.«
    Die unteren zwei Reihen der Zuschauerränge waren voll besetzt mit Familien, mit Eltern, Großeltern und jüngeren Geschwistern, die zwanzig kleinen Kindern in voller Montur beim Training zusahen.
    James sprintete auf sie zu. Der Wind schmiegte die Kleider an seinen schlanken Körper, und ich war von dem Anblick derart fasziniert, dass ich bis zum letzten Moment an der gleichen Stelle ausharrte, um dann doch vor ihm anzukommen. Nach Luft schnappend, ließ er sich auf den Sitz neben mich fallen. Das Haar hing ihm wirr in die Augen.
    »Du hast gewonnen«, sagte er. Ich konnte sehen, wie er sich an der Kraft seines menschlichen Körpers freute. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie es war, mit meinen eigenen Beinen zu rennen, doch alles, was ich fühlte, war Neid. Auf dem Spielfeld halfen zwei Männer einem kleinen Jungen, einen schweren hölzernen Schläger anzuheben.
    »Helen«, sagte James, ohne mich anzusehen. Der Klang meines Namens schreckte mich auf. »Es ist unbeschreiblich schön, dir Fragen zu stellen, die niemand außer uns verstehen würde.«
    »Ich weiß.«
    »Das Problem ist …«, fuhr er fort, und eine Welle des Schmerzes überschwemmte mich und verwandelte mein Herz in Holz. Er wollte unsere Verbindung beenden, ich konnte den Klang der Trauer spüren. »Das Problem ist«, sagte er, jedes Wort sorgsam abwägend, »dass sich meine Gefühle für dich verändert haben.« Obwohl niemand ihn hören konnte, senkte er die Stimme. »Es ist hart, dich bei mir zu haben, ohne deine Hand nehmen oder dich küssen zu können.«
    Seine Worte ließen mich erstarren. Meine Stimme versagte, und meine Gedanken blieben einfach stehen.
    Düster blickte er nach unten. »Ich würde dich niemals wegschicken, schließlich war ich es ja, der dich gerufen hat, aber vielleicht habe ich nicht das Richtige getan. Ich weiß es nicht …«
    Es war verwirrend: der Kitzel, dass er mich liebte, die Angst, dass er mich verlassen könnte. Angestrengt versuchte ich, meine Stimme wiederzuerlangen.
    »Für dich klingt das wahrscheinlich vollkommen absurd«, sagte er. »Ich bin mir sicher, dass du keine ähnlichen Gefühle für mich hegst.«
    »Ich kann dich nicht anlügen«, erwiderte ich. »Ich bin dir sehr zugetan. Aber ich bin älter als du.«
    »Du vergisst, dass ich kein Junge mehr bin«, warf er ein. »Ich stecke nur im Körper eines Jungen.«
    Es war nicht leicht, mich daran zu erinnern – James war so jung im

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