Silberlicht
verschiedenen Phasen fortschreitender Verrostung befand. Ich ließ mich durch die Decke in James’ Zimmer fallen, wo er wach auf seinem Bett lag. Er lächelte, als er mich in der Ecke erscheinen sah.
»Du kannst das so gut«, sagte er.
»Was?«
»Dich materialisieren.« Er lachte.
»Konntest du nicht durch Gegenstände gleiten?«
»Auf meine ungeschickte Art schon.« Er musterte mich eingehend, und ich fragte mich, ob ich ihm wohl gerade durchscheinend oder voller Farbe erschien. »Nicht so anmutig wie du.«
Ich hatte jahrelang nicht mehr daran gedacht, doch nun erinnerte ich mich an die erste Zeit mit meiner Heiligen, als ich geübt hatte, durch Wände und Tische und Rosenbüsche zu schweben, manchmal langsam, wie ein Rauchring, und manchmal so schnell wie ein Blitz. Nach und nach war es immer leichter geworden, und bald konnte ich so leichtfüßig durch die Räume wandern wie Vogelgesang, der durch einen Spitzenvorhang dringt.
»Vielleicht ist es einfacher für diejenigen von uns, die bei Menschen spuken und nicht an Orten. Um bei unseren Bewahrern zu bleiben, müssen wir immerzu Wände durchqueren.«
Bevor James antworten konnte, wurde die Zimmertür aufgerissen, und Mitch stand wutschnaubend im Flur.
»Wo verdammt noch mal warst du?«
James setzte sich auf. »Nirgends.«
»Erzähl keinen Scheiß«, sagte Mitch. »Ich habe bei dir angerufen, als ich in der Arbeit war.«
»Ich habe keine Nachricht gesehen …«
»Ich habe auch nichts von einer verfluchten Nachricht gesagt, sondern dass ich angerufen habe. Wo warst du also?«
»Ich bin spazieren gegangen«, antwortete James.
»Lüg mich nicht an.« Mitch schüttelte den Kopf.
»Tu ich nicht. Ich bin zum Sportpark gelaufen und habe ein paar Kindern beim Baseballtraining zugesehen.«
»Habe ich gesagt, dass du rausgehen darfst?«
»Ich dachte, es wäre okay, mal ein bisschen rumzulaufen. Ich habe das Haus abgesperrt.«
»Mit wem warst du zusammen?«
»Mit niemandem«, sagte James, und Mitch merkte, dass er log.
»Ich schwöre dir, wenn ich herausfinde …«
»Ich gerate nicht in Schwierigkeiten«, sagte James.
»Ich arbeite den ganzen Tag, und du sitzt auf deinem Arsch und schaust Baseball.«
»Du hast recht«, antwortete James. »Das ist nicht fair. Ich werde mir einen Job suchen.«
»Das könnte dir so passen. Du wirst die Schule nicht abbrechen, du kleiner Scheißer.«
»Ich meinte, an den Wochenenden.«
»Ich weiß genau, was du an den Wochenenden ›gearbeitet‹ hast.«
»Dann sag du, was ich machen soll«, erwiderte James. »Im Ernst.«
Das ließ Mitch verstummen. Er sah seinen Bruder stirnrunzelnd an und ging aus dem Zimmer.
»Hattest du genug Zeit für dich allein?«, wandte sich James an mich.
Mitch kam zurück. »Redest du mit dir selber?«
»Was kümmert’s dich?«
»Chris ist übers Wochenende daheim, Klugscheißer. Wir gehen heute Abend aus.«
James sah ihn ausdruckslos an. »Okay.«
»Haben sie dir das Gehirn gelöscht?«, fragte Mitch. »Du hast keine Ahnung, wovon ich gerade rede, oder?«
»Dein Freund Chris?«
»Raynas Bruder. Klingelt was? Er hat Urlaub.«
»Okay, viel Spaß. Ich komme zurecht.«
»Ja, ich weiß«, seufzte Mitch. »Aber ich will dich da haben, wo ich dich sehen kann. Du kommst heute Abend mit.«
Während ich nachdenklich auf dem Dach saß, hatte ich mich fast schon dazu durchgerungen, mir von James einen leeren Körper besorgen zu lassen, doch was, wenn mein Licht-Geist den Akt der Übernahme nicht bewältigen würde? Vielleicht war James anders als ich? Er hatte einsam an einem Ort gespukt und nicht mit einer Reihe von Bewahrern gelebt. Was, wenn ihn diese Zeit widerstandsfähiger hatte werden lassen? Ich fürchtete, zu scheitern und in meine Hölle zurückzustürzen, ohne ihn je wiederzusehen. Ich konnte es nicht wissen.
»Nimm mich mit an deinen Spukort«, bat ich ihn. Ich wollte seine Schritte nachgehen, dort sein, wo er gewesen war.
»Das habe ich schon«, sagte James. »Wo jetzt das Baseballfeld ist, dort habe ich gespukt.«
»Warum hast du mir das nicht gesagt?« Ich war fast verärgert.
»Ich dachte, es würde dich traurig machen«, murmelte er.
Wahrscheinlich hätte es mich wirklich traurig gemacht, auf das Gras hinunterzublicken und mir einen Garten vorzustellen, in dem der zweijährige James barfuß herumlief. Oder auf das Spielfeld zu sehen und mir einen Licht-James auszumalen, der nachts die Bases entlangging.
Am liebsten hätte ich jede Einzelheit gewusst, an die er
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