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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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sich erinnerte. Jeden Geruch und jedes Geräusch. Jede Farbe, die er aus seinem vergangenen Leben heraufbeschwören konnte. Ich fürchtete meine eigenen Erinnerungen, doch nach seinen verspürte ich einen gierigen Hunger.
    »Erzähl mir alles, was du aus deinem Leben noch weißt.«
    »Ich habe dir alles gesagt.«
    »Du hast gesagt, dass du dich jeden Tag an etwas Neues erinnerst«, erwiderte ich. »Was ist heute dazugekommen?«
    Er dachte nach. »Ich weiß wieder, wie unser Schaukelstuhl geklungen hat«, erzählte er. »Auf der linken Seite hat er geknarzt.«
    Ich beobachtete, wie er sich unter theatralisch-pantomimischen Gesten für den Abend mit Mitch fertigmachte. Er zeigte mir Billys T-Shirts, eins nach dem anderen, und ich musste so sehr lachen, dass die Bilder an der Wand neben mir wie Motten flatterten. Die Zeichnungen auf den T-Shirts – von einem Schädel mit einer Schlange in der Augenhöhle bis zu einer Pfütze mit Erbrochenem war alles vertreten – standen in so harschem Gegensatz zu James’ Persönlichkeit, dass es mich bis ins Mark bezauberte. Schließlich wählte er ein einfaches braunes T-Shirt. Der Stoff war so dünn, dass ich die Umrisse seines Schlüsselbeins und den Schwung seiner Muskeln erkennen konnte.
    »Ich entschuldige mich im Voraus für jegliche Beleidigung, die meine Begleiter heute Abend äußern könnten«, sagte er, während er seine Jacke anzog.
    »Danke«, erwiderte ich. »Aber das musst du nicht. Ich habe zwei Jahre mit Mr. Brown in einem Männerwohnheim gelebt.«
    »Tatsächlich?« Er sah beeindruckt aus. »Beherzte Helen.«
    Nachdem Mitch ihn mehrmals lautstark zur Eile angetrieben hatte, war es am Ende James, der auf seinen Bruder warten musste. Als der endlich in seine Jeansjacke schlüpfte, sah er James misstrauisch an.
    »Was hast du gemacht, deine Haare gekämmt?«
    »Hast du mir das nicht hundert verdammte Male gesagt?«
    Mitch zuckte mit den Schultern. »Hat ja früher auch nicht geholfen.«
    Ich folgte den beiden zu ihrem rostigen Auto und setzte mich hinten auf den Rücksitz.
    »Was machen wir heute Abend?«, fragte James.
    »Wir gehen ins
Rusty Nail.
« Mitch fuhr aus der Einfahrt und raste die Amelia Street hinunter. »Vielleicht auch ins Kino. Warum?«
    »Nur so«, sagte James. »Ist es hinten zu windig?«, fragte er, als er das Fenster herunterkurbelte. Er drehte sich zu mir um. Ich war zu erschrocken, um zu antworten. Aber seine Aufmerksamkeit schmeichelte mir, vor allem da Wind mir eigentlich nichts anhaben konnte.
    »Was?«, knurrte Mitch.
    »Ich meine …« James streckte den Ellbogen aus dem Fenster. »Ich will nicht, dass irgendwas … durch die Gegend fliegt.« Mitch sah immer noch verwirrt aus. »Auf dem Rücksitz«, fügte James hinzu.
    »Wenn es nicht so teuer wäre«, erwiderte Mitch, »würd ich dein Gehirn untersuchen lassen.«
    »Halt die Klappe.«
    Mitch schüttelte den Kopf. »Mach mir ’ne Zigarette an.«
    Das
Rusty Nail
war ein großes, scheunenähnliches Gebäude mit einem mächtigen roten Neonschriftzug an der Außenseite und im Innenraum Unmengen an Cowboy- und Goldgräberartefakten. Ein Butterfass, rissig und nutzlos, hing hoch oben an einer Wand – ein Relikt aus vergessenen Tagen, veraltet wie ein römischer Streitwagen.
    Rauchschwaden zogen durch die Bar, und der Essbereich dröhnte vor Lärm. Mitch und James fanden Rayna, die junge Frau vom Vorabend, an der Bar, in Begleitung von Jack, ihrem Piraten. Daneben saßen Chris, ein muskulöser Mann mit geschorenem Kopf und einer Hai-Tätowierung auf dem Handrücken; seine Freundin Dawn, die ein kurzes schwarzes Kleid passend zu ihren kurzen schwarzen Haaren trug, sowie ihre Schwester Libby, ein dralles Mädchen mit schwarzen Locken und einem roten T-Shirt mit einem grünen Drachen drauf. Sie waren bereits beim Alkohol angelangt.
    »Wer ist das?«, fragte Libby und stieß Chris in die Seite.
    »Du kennst doch Mitch.«
    »Nein, der andere«, sagte sie und deutete auf James.
    »Das ist sein Bruder, Billy«, antwortete Rayna. »Zu jung für dich«, sagte sie warnend.
    »Nie im Leben.«
    Während sich das Grüppchen in einer Sitznische niederließ, schwebte ich in eine Ecke neben einen aufgehängten Büffelkopf. James, der am Rand Platz genommen hatte, suchte den Raum nach mir ab. Ich hatte bereits viele Restaurants besucht, vor allem mit Mr. Brown, doch mit James war es anders. Er war sich meiner so bewusst.
    Libby saß zwischen Mitch und James, ihre Hand ruhte auf James’ Oberschenkel,

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