Silberlicht
alle Kleider, ja sogar die Unterwäsche aus und starrte wie hypnotisiert in den Spiegel der Schranktür. Ich fühlte die weichen Brüste und das winzige Loch meines Bauchnabels. Ich kam näher und hielt mein Haar zurück, um die Form meiner Ohren zu betrachten. Was für ein Geschenk, plötzlich wieder so jung zu sein.
Während ich die Rundung von Jennys Ohr und den Schwung ihres Nackens untersuchte, sah ich für einen Moment das Bild eines anderen Halses, das sich vor mein inneres Auge schob, wie ein Geistergemälde, das von einem Künstler übermalt worden war. Dieser Hals war blasser, das Ohr ein wenig gerundeter, das Haar dahinter lockig anstatt glatt. Ich erinnere mich, dachte ich. Ein Klopfen an der Tür riss mich aus meiner Vision.
»Kann ich hereinkommen?«, rief Cathy aus dem Flur.
»Moment.« Ich sah erst in den Schrank, dann in die Kommode, nahm einen ordentlich gefalteten Pyjama heraus und zog mir die Hose an. Während ich das Oberteil zuknöpfte, rief ich: »Jetzt!«
Die Tür öffnete sich, und Cathy steuerte direkt auf den Schreibtisch zu, zog die oberste Schublade auf und nahm einen kleinen Taschenkalender heraus. »Mal sehen«, sagte sie. »Nein, deine Periode sollte erst in eineinhalb Wochen beginnen.« Sie legte den Kalender zurück. »Gib mir Bescheid, wenn du dich gewaschen hast, dann komme ich, um mit dir zu lesen.« Stirnrunzelnd blickte sie sich im Zimmer um. »Hier sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.«
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich.
Jennys Mutter zuckte mit den Schultern und ging den Flur hinunter. Ich raffte die Kleider zusammen und legte sie in den Wäschekorb. Die Schuhe stellte ich in die Schachtel zurück, aus der Jenny sie herausgenommen hatte. Dann ging ich ins Badezimmer. Es war eine seltsame und wundervolle Arbeit, mir die Zähne mit einer Bürste zu putzen, den Geschmack von Pfefferminz im Mund. Und wie eigenartig, der Drang, urinieren zu müssen, und das Gefühl, es wirklich zu tun. Alles war so neu, als hätte ich noch nie in einem Körper gesteckt, auch nicht, als ich noch unter den Lebenden weilte. Ich ging zurück in mein Zimmer und setzte mich an den Frisiertisch, wo ich mir immer wieder das Haar bürstete, weil mich das Gefühl so faszinierte. Nicht nur, dass ich wieder lebendig war, ich war jung. Es war unglaublich.
»Fertig?«, fragte Cathy, die mit einer Zeitschrift in der Hand im Türrahmen stand.
»Ja.«
Cathy schlug die Bettdecke zurück, und ich schlüpfte darunter, entzückt von der kühlen Glätte des Bettlakens. Sie legte die Zeitschrift zur Seite, um die Decke unter meinen Beinen festzustopfen wie einen Kokon.
»So, schön gemütlich«, sagte sie. »Soll ich etwas aussuchen?«
»Sehr wohl.«
Sie warf mir einen verwunderten Blick zu, und ich versuchte mich zu erinnern, was Mr. Browns Schüler in einer solchen Situation geantwortet hätten. »Okay«, sagte ich schließlich.
Cathy öffnete das kleine Heft und blätterte ein wenig darin herum. »Hier ist eine Geschichte mit dem Titel
Das Wunder des verschwundenen Schlüssels.
« Sie räusperte sich und begann zu lesen. »›Von Amy Christopher. Mein Vater erzählt mir, dass ich nur deshalb noch am Leben bin, weil ein Elf seinen magischen Schlüssel gestohlen hat.‹« Cathys Stimme klang wie die einer Nanny, die ihrem Schützling vorliest. »›Ich weiß, dass es kein Elf war, und glaube, dass er es im Grunde seines Herzens auch weiß. Es war ein Engel Gottes, der mich gerettet hat, als ich gerade zehn Monate alt war.‹«
Die Geschichte war langweilig, doch ich hätte der Schreiberin alles verziehen. Jemand las mir vor. Cathy lächelte, als der Text zu Ende war. »Du bist dran.«
Mit großem Vergnügen blätterte ich durch die Zeitschrift, die
Seine Wege
hieß. Bei einem kurzen Gedicht hielt ich inne.
»
Begrenze den Weg.
Von Prentice Dorey«, las ich laut vor.
»Mein Vater stand immer am Tor,
Einen schweißfleckigen Hut in der starken Hand.
Immer zeigte er Fremden den Weg
Zu der Brücke, erbaut auf dem Land seiner Vorfahren.
Seine langen Finger strichen durch sein graues, dünner werdendes Haar,
Wenn der Fluss hoch stand oder Stürme tobten,
Und sie zeigten jedem Planwagen und jedem Fuhrwerk den Weg,
Versperrten niemals die Straße, verwehrten nie das Ziel.
Als ein Farmer fragte, ob sein Treck sicher sei,
Antwortete er ihm: »Bleibt auf dem Weg, was immer ihr tut,
Seht nicht nach unten. Dreht euch nicht um. Es ist eng, das ist wahr.
Doch wenn ihr stets nach vorne
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