Silberlicht
in die Küche, setzte mich an den Tisch und öffnete umständlich den kleinen Karton mit meinem Trinkfrühstück. Ich trank einen Schluck und lächelte. Schokolade hatte ich fast schon vergessen. Ich bemerkte, wie Cathy mich ungläubig anstarrte. Sie reichte mir einen in weißes Papier verpackten Strohhalm, den ich auswickelte und in mein Getränk steckte.
»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte Cathy.
»Trinke ich das immer zum Frühstück?«, sagte ich, ohne zu merken, wie seltsam das klingen musste.
Wahrscheinlich hatte sie mich missverstanden, denn sie antwortete: »Ich kann nächstes Mal gerne Erdbeermilch kaufen, wenn du das lieber magst.«
Ich saß am Küchentisch, schlürfte meine Schokolade und musste aus irgendeinem Grund an Kiefern denken. Cathy ging an mir vorbei und gab mir einen leichten Klaps auf die Schulter.
»Gebetsecke.« Offensichtlich erwartete sie, dass ich diesen Befehl verstand. Ich ließ mein Getränk zurück und folgte ihr durch den Flur in den Raum neben dem Elternschlafzimmer, in dem ein riesiger Fernsehbildschirm aufgebaut war. Während meiner nächtlichen Büchersuche hatte ich bereits hier hineingesehen, doch die drei weißen Stühle in der Ecke waren mir entgangen. Eine darüber montierte Glühbirne strahlte auf sie herab. Die Stühle standen sich in ungefähr fünfzig Zentimeter Abstand gegenüber. Auf einem Stuhl lag eine Bibel, auf einem anderen ein braunes, in Leder gebundenes Buch.
Cathy nahm die Bibel in die Hand und setzte sich auf den Stuhl. Als ich zögerte, klopfte sie mit der flachen Hand auf das braune Buch.
»Wir wollen doch pünktlich sein.«
Ich setzte mich. Cathy schloss die Augen, legte ihre Hand auf die Bibel und atmete tief ein, als würde sie einer wunderschönen Symphonie lauschen, die nur sie selbst hören konnte. Ich sah auf das mit »Tagebuch« betitelte Heft in meinem Schoß und öffnete es. Die erste Seite war überschrieben mit » 15 . Mai bis«, das Enddatum fehlte. Ursprünglich hatte es sicher um die hundert Seiten enthalten, doch etwa die Hälfte davon war herausgerissen worden, so dass sich der Faden der Bindung langsam auftrennte und nur gezackte Papierkanten übrig geblieben waren. Die erste der verbleibenden Seiten war vom siebten Juli. Trotz des Buchtitels war das, was da in blauer Tinte geschrieben stand, kein Tagebucheintrag, sondern ein langes Bibelzitat.
»Exodus 20 – Dann sprach Gott alle diese Worte: Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.«
Das war aus den Zehn Geboten. Jennys Handschrift – ich hatte ihre Mitschriften in den Schulbüchern gesehen, daher war ich mir sicher, dass es sich um ihre handelte – war klein und sauber. Ich blätterte ein paar Seiten weiter und stieß auf eine Stelle mit Sprichwörtern.
»Ein zügelloser Knabe macht seiner Mutter Schande.«
Dan erschien so überraschend, dass ich das Tagebuch erschrocken zuschlug. Er setzte sich auf den dritten Stuhl und lächelte Cathy zu. Fasziniert beobachtete ich, wie beide die Augen schlossen.
»Vater im Himmel.« Seine Stimme dröhnte durch den Raum, viel lauter, dachte ich, als Gott es für nötig halten würde. »Öffne unsere Ohren für Dein Wort. Reinige unsere Herzen von Sünde. Mach unseren Willen zu Deinem Willen. Im Namen Jesu Christi, Amen.«
Dan schlug die Beine übereinander und nahm einen Stift aus seiner Hemdtasche, den er mir, ohne mich anzusehen, weiterreichte. Cathy gab ihm die Bibel, die sie wie ein Baby auf ihren Knien gewiegt hatte. Er schlug eine Seite auf und begann laut zu lesen. Ich betrachtete seine Hände, die das Buch umschlossen hielten. Seine Finger waren hart und gebräunt; er trug keinen Ehering.
»Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe.«
Cathy hatte ein Bein über das andere geschlagen, und der in der Luft schwebende Fuß bewegte sich zu den Worten ihres Mannes. Ihr Knöchel war so dünn wie der eines kleinen Mädchens, ihr Schuh flach, schwarz und geschnürt wie der eines Kindes in Sonntagskluft.
»Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört«, las Dan, »und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde.«
Als er fertig war, gab er Cathy die Bibel zurück. »Sprichwörter 22 , 3 .«
Eilfertig schlug Cathy die betreffende Seite auf und drehte sich zu mir. Sie atmete tief ein.
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