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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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das übrige Haus zu erkunden, mit Ausnahme des Elternschlafzimmers. Jennys Heim war so ordentlich wie ein Altarraum. Und wie in einer Kirche gab es, abgesehen von Dans und Cathys Arbeitszimmer, keine Bücher. Ich schaltete die kleine Schreibtischlampe an und sah mich um. Auf dem obersten Regal fand ich Abhandlungen zu Geschäftspraktiken und –strategien, Vertragsrecht und Führungsverhalten. Auf dem Brett darunter standen diverse »Wie«-Bücher – Wie man Verkäufe erhöhte, wie man Menschen beeinflusste, wie man sein Auto selbst reparierte, wie man ein besserer Redner wurde. Auf dem nächsten Regalbrett standen Hörbücher in Reih und Glied –
Schritte zum Erfolg, Verbessere dein Gedächtnis, Die Bibeldiät –,
außerdem das Neue Testament sowie einige Kassetten, die mit dem Wort »Predigt« und dem entsprechenden Datum gekennzeichnet waren. Das nächste Brett war angefüllt mit Büchern über Golf oder Handarbeit und, je nach männlicher oder weiblicher Leserschaft, streng getrennt. Die unteren zwei Reihen beherbergten eine Ausgabe der
New House Encyclopedias.
Kein einziger Roman. Kein einziger Gedichtband. Enttäuscht gab ich auf.
    Als ich in mein behagliches, sauberes Bett zurückgekehrt war, erinnerte ich mich an das Gedicht, das ich in Cathys Zeitschrift gelesen hatte. Ich sah Regen, der einen Fluss anschwellen ließ, Reihen von Getreide, die sich in lange dünne Inseln verwandelten, Erde, die sich um die Wurzeln herum lockerte, einen Baum, der aus dem Boden gerissen wurde und umstürzte. Für den Rest der Nacht umfing mich menschlicher Schlaf wie eine süße, schwere Droge.
     
    »Raus aus den Federn!« Am nächsten Morgen klopfte Cathy an meine Tür und jagte mich aus dem Bett. Ich konnte kaum die Augen öffnen, so ungewohnt war mir der Schlaf der Lebenden.
    Während meiner Jahre als Licht hatte ich unzählige Male im Regen oder unter Wasserfällen gestanden, mich Wasserhähnen oder Duschen genähert, doch als jetzt kaltes Wasser wie Eis auf Jennys Haut herunterprasselte, war ich zutiefst verängstigt. Übelkeit stieg in mir auf. Ich schluckte den sauren Geschmack hinunter und griff an den kleinen Hebel, der das Wasser nicht mehr aus dem Duschkopf, sondern direkt in die Wanne fließen ließ. Immer noch zögerlich hielt ich meine Hand in den Strom, der mittlerweile so warm war wie Muttermilch und im nächsten Moment kochend heiß. Ich regulierte die Temperatur und drückte schließlich einen zweiten Hebel – zum Glück derselbe Mechanismus wie im Bad der Browns –, so dass sich die Wanne zu füllen begann. Vorsichtig stieg ich hinein und ließ den Pegel etwa fünfzehn Zentimeter steigen. Meine Hände formten sich zu einer kleinen Schüssel und übergossen mich wie bei einer Taufe mit Wasser. Gleichzeitig versuchte ich, die Bilder von verfaulendem Holz aus meinem Kopf zu vertreiben.
     
    Ich musste meinen ganzen Verstand einsetzen, um so einfache Dinge wie einen rosafarbenen Plastikrasierer oder einen elektrischen Haartrockner zu bedienen. Hinter dem Spiegel an der Wand verbarg sich ein Schrank voller kleiner Flaschen. Ich überflog die winzig gedruckten Dosierungsanleitungen und das Anwendungsgebiet des jeweiligen Medikaments. »Dreimal täglich eine Tablette zu den Mahlzeiten. Gegen Schmerzen und Fieber.« Ich musste daran denken, wie sehr sich das Leben der Kinder in den letzten hundert Jahren geändert hatte. Früher hatte man sie aus dem Raum geschickt, wenn Themen für Erwachsene behandelt wurden. Jetzt saßen sie jede Nacht vor dem Fernseher und schauten sich Morde und Vergewaltigungen an. Vielleicht musste Mitch deswegen Billys Schubladen nach Drogen durchsuchen. Und vielleicht hatte Jenny deswegen lauter kleine blaue Pillen gegen Angstzustände in ihrem Badezimmer. Und gelbe gegen Stress. Und weiße gegen Schlaflosigkeit.
    Da Cathy mein Aussehen nicht kommentierte, nahm ich an, dass ich Jennys Arsenal an Kosmetika korrekt benutzt und ein akzeptables Kleider-Ensemble für die Schule ausgewählt hatte. Ich trug ein dunkelgrünes Kleid und einen hellblauen Pullover. Als ich die Küchenschränke nach Essen durchsuchte, warf sie mir einen seltsamen Blick zu.
    Sie zog eine Schublade auf und nahm eine Getränkepackung heraus. »Wo ist deine Schultasche?«
    Unter dem Schreibtisch in Jennys Zimmer fand ich eine dunkelgelb und braun karierte Leinentasche. Ich packte alle vier Schulbücher sowie die Handtasche hinein, mit der ich Jenny am Vortag im Einkaufszentrum gesehen hatte. Dann ging ich wieder

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