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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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fragte Mr. Brown. Er lehnte über dem Tresen, und Olivia reichte ihm einen Zettel aus seinem Fach an der Wand.
    »Danke«, sagte er.
    Ich blickte zu ihm auf. Er stand direkt neben mir, hielt seine Mappe in der Hand und trug wie so oft an Montagen sein blaues Hemd. Er sah aus wie immer, doch diesmal konnte ich die schwache Hitze seines Körpers wahrnehmen, das Leder seiner Tasche riechen, ja selbst die Salbei-Seife, mit der er sich gewaschen hatte. Ich war verzaubert von seiner starken, soliden Körperlichkeit. Seine Tasche wirkte leicht und leer, was bedeutete, dass er seinen Roman heute nicht mitgebracht hatte. Die Schnalle würde sich sonst nicht schließen lassen. Ich atmete tief ein und wollte ihn schon ansprechen, als mir gerade noch einfiel, dass er Jenny wahrscheinlich gar nicht kennen würde. Und mich sowieso nicht. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ Mr. Brown das Sekretariat. Auch wenn ich genauso körperlich neben ihm gestanden hatte wie er neben mir, war ich für seine Augen so unsichtbar wie früher. Olivia telefonierte wieder.
    Ich blickte aus dem Fenster. Draußen auf einer Steinbank stand James und suchte die Schülermenge ab. Das Blut stieg mir in die Wangen.
    »Bitte sehr«, sagte Olivia und reichte mir ein Blatt Papier.
    Atemlos eilte ich aus dem Gebäude in den Hof, doch James war nirgendwo zu sehen. Jetzt war es an mir, die Menschenmenge abzusuchen.
    Ich kannte die Schule, die Numerierung der Räume und die Namen der Lehrer, aber nur wenige Schüler. Zwei Mädchen, die ich nicht zuordnen konnte, grüßten Jenny im Vorbeigehen, doch ich lächelte nur zurück.
     
    Stumm saß ich in einer Unterrichtsstunde über Bodenablagerungen, Gebäude A, Raum 100 . Als die Klingel ertönte, zuckte ich erschrocken zusammen.
    Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge und ging auf Gebäude C zu, als ich in einiger Entfernung eine vertraute Gestalt sah. Ihr dunkles Haar wehte im Wind. James drehte sich um und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die anderen Schüler hinwegsehen zu können. Ich war wie gelähmt vor Aufregung. Als er Jennys Gesicht entdeckte, wurden seine Züge starr. Ich sah ihm zu, wie er sich eilig durch die Menge drängte, verlor ihn jedoch gleich wieder aus den Augen, weil ich nicht weit genug aus dem Gesichtermeer herausragte. Ich begann zu winken. Als er sich an einer Mädchengruppe vorbeigezwängt hatte und nur noch einen Meter von mir entfernt stand, hielt ich inne.
    »Helen?«, fragte er.
    Ich nickte. Für einen kurzen Moment dachte ich daran, so zu tun, als seien wir uns gerade erst begegnet. Doch gleich darauf fielen unsere Taschen zu Boden, und er umarmte mich so fest, dass mir die Luft wegblieb. Es war überwältigend, sein Gesicht an meinem zu fühlen, seine kräftigen Arme, sein schlagendes Herz. Den Geruch seines Haares einzuatmen. Die Wärme seiner Haut rührte mich zu Tränen. Ich hörte die unverschämten Bemerkungen einiger Schüler, ein Mädchen lachte. James nahm meine Hand und zog mich hinter sich her durch die Menschenmenge, so dass ich fast rennen musste, um mit ihm Schritt zu halten. Er führte mich hinter die Wertstoffcontainer, wo wir das erste Mal miteinander gesprochen hatten, umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und küsste mich. Er schien es kaum fassen zu können, dass ich wirklich und leibhaftig vor ihm stand. Langsam erkundete er die Knochen und Muskeln meines Gesichts, die feuchte Wärme meines Mundes.
    Als die Klingel ertönte, hielten wir inne. Ich hätte nicht sagen können, ob eine Stunde oder fünf Minuten vergangen waren. James drängte mich gegen die Wand. Er sah sich um, ob wir beobachtet wurden, doch außer ein paar Schülern, die zu ihren Klassenzimmern eilten, war weit und breit niemand zu sehen. Ich kannte keine Zurückhaltung. Er war besser als Essen, und ihn zu schmecken machte mich nur noch hungriger. Ich umschlang ihn erneut und atmete ihn tief ein.
    Ein Blitz der Erinnerung durchfuhr mich – meine Finger in weizenblondem Haar und ein bärtiger Hals mit einer winzigen halbmondförmigen Narbe. Kälte kroch meinen Rücken hinauf. Schnell drängte ich das Bild zurück. Und dann waren da nur noch James und das dunkle Haar, das ihm übers Auge fiel. Ich schob meine Hände unter sein T-Shirt, um die glatte Wärme seines Rückens zu fühlen, und drückte mein Gesicht an seine Brust. Er ergriff meine Finger und hielt sie fest.
    »Warte«, sagte er. »Welches Fach hast du jetzt?«
    Es dauerte einen Moment, bis es mir einfiel.

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