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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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»Sprichwörter 22 , 3 .« Sie hielt inne und warf mir einen auffordernden Blick zu. Dan sah ebenfalls zu mir herüber. Ich begriff, dass ich mitschreiben sollte, öffnete das Tagebuch und blätterte die erste freie Seite auf. Mein Herz begann aufgeregt zu schlagen. Würde ich Jennys Handschrift nachahmen können? Ungeschickt versuchte ich den Stift zu öffnen, bis ich bemerkte, dass man ihn drehen musste.
    »Sprichwörter …«, trieb Cathy mich erneut an.
    Ich begann, ihre Worte in kleinen, sauberen Buchstaben mitzuschreiben, die Jennys Handschrift hoffentlich so ähnlich wie möglich waren. Diesmal ließ Dan seinen Fuß im Takt mitschwingen.
    »Der Kluge sieht das Unheil und verbirgt sich.« Cathy wartete, während ich eifrig mitschrieb. Auch wenn mir der Text keinen Genuss bereitete, war der Stift das reinste Wunder. Die beste Erfindung seit der Druckerpresse.
    »Die Unerfahrenen laufen weiter«, las Cathy, »und müssen es büßen.«
    Ich vollendete das Diktat und gab Dan den Stift zurück. Er warf mir einen Blick zu und sagte: »Steh auf.«
    Zögernd folgte ich seinem Befehl. Mit den Händen in den Hüften stand er vor mir und musterte mich von oben bis unten, wobei er es vermied, mir in die Augen zu sehen. Mein Gesicht, mein Körper, meine Beine – alles wurde genauestens unter die Lupe genommen. Er zog ein kleines metallenes Metermaß aus seiner Tasche und reichte es Cathy.
    »Die Schulkleidung war schon immer so«, sagte sie mit einem ärgerlichen Ton in der Stimme. »Jenny ist nicht geschrumpft.« Cathy beugte sich vor, um den Abstand zwischen meinem Knie und dem Rocksaum zu messen.
    »Sie wächst«, erwiderte Dan.
    »Das tut sie nicht«, entgegnete Cathy.
    »Dreh dich um«, sagte Dan zu mir, als Cathy ihm das Band zurückgab. Als ich zögerte, bewegte Jennys Mutter ihre Hand im Kreis herum, so dass ich ihre Geste imitierte und mich einmal um mich selbst drehte. Wieder betrachtete Dan meinen Körper. »Zieh den Pullover aus.«
    Cathy schien beleidigt, als ob die Überprüfung von Jennys Anziehsachen in ihren Aufgabenbereich falle und sie gerade zurückgestuft worden sei. »Du hast das Kleid doch erst letzte Woche begutachtet«, erklärte sie ihm. »Es scheint kein Licht durch, man sieht keine Träger, nichts bewegt sich.«
    »Cathleen.« Seine Stimme klang drohend. Ich wollte gerade aus dem Pullover schlüpfen, als Dan uns mit einer ungeduldigen Handbewegung entließ. »Einen schönen Tag, meine Damen.«
     
    Während Cathy mich zur Schule fuhr, erkannte ich plötzlich, wie sehr ich auf mich allein gestellt war. Immerhin wusste ich aufgrund ihrer Bücher, welche Kurse Jenny besuchte. Vor lauter Nervosität war mir ein wenig schwindelig, und der komische Kirschduft, den Cathy im Auto versprüht hatte, machte alles nur noch schlimmer. Wir fuhren an zwei Mädchen vorbei, von denen eines eine Cheerleader-Uniform trug.
    »Was hältst du von Cheerleading?«, fragte ich, um zu erfahren, ob ich zu einem Training erscheinen musste.
    »Darüber haben wir doch schon in der Mittelstufe gesprochen. Die Uniformen zeigen den nackten Bauch, und die Choreographie ist absolut unpassend.«
    Am Bordstein vor der Highschool hielt sie schließlich an.
    »Hab einen schönen Tag, Liebling.« Sie wandte mir ihren perfekt frisierten Kopf zu, und ich gab ihr einen Kuss auf die Wange.
    Beim Aussteigen drehte ich mich noch einmal um und fragte sie: »Sehe ich gut aus?«
    »Aber ja.«
    »Wie ist es mit Sport?«, fragte ich.
    Sie blinzelte mich verwundert an. »Du willst eine Sportart ausüben? Du hast doch die Ballettstunden aufgegeben, um mehr Zeit zum Lernen zu haben.«
    »Nicht so wichtig.« Lächelnd schlug ich die Tür zu.
    Ich versuchte, den übrigen Schülern so weit wie möglich auszuweichen. Mir fiel kein einziger Name ein, und auch Jennys Freunde würde ich nicht erkennen. Im Sekretariat wartete ich, bis Miss Lopez – Mr. Brown hatte sie immer Olivia genannt – den Telefonhörer aufgelegt hatte.
    »Wie kann ich Ihnen helfen, Miss Thompson?«
    »Könnte ich eine Kopie meines Stundenplans haben?«
    Sie blickte mich verwundert an. »Wofür?«
    Zu meiner Überraschung kam mir eine spontane Lüge über die Lippen. »Die Gemeinde.«
    »Kein Problem.« Olivia rollte ihren Bürostuhl zum Computer, der auf einem Tisch an der Wand stand, und tippte darauf herum. Im Zimmer roch es nach Kleber und verschütteter Tinte.
    Mein Herz machte einen Satz, als hinter mir eine vertraute Stimme erklang.
    »Gibt’s Nachrichten für mich?«,

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