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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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verpassen?« Ich setzte mich auf. »Ich habe immer noch keinen Apfel gegessen.«
    Wir halfen einander in die Kleider. James kletterte als Erster auf die Bühne, in der Hand meinen Schuh, der nicht aus unserem Versteck gefallen war. Ich folgte ihm barfuß. Als wir den zweiten gefunden hatten, kniete er vor mir nieder und half mir hinein.
    Nachdem wir unsere Taschen vom Boden aufhoben, er meine, ich die seine, sah er mich mit einem eigenartigen Lächeln an.
    »Was ist los?«, fragte ich.
    »Du siehst etwas zerzaust aus«, lachte er. »Als ob jemand das hier getan hätte …« Er küsste mich leidenschaftlich, während seine Finger in meinen Haaren wühlten.
    Der Schulhof war bereits voller Schüler, die an Tischen, auf Bänken und auf dem Gras saßen und ihren Lunch aus mitgebrachten Boxen oder von den Cafeteriatabletts aßen. Unter einem Baum blieben wir stehen.
    »Hast du eine Mensakarte?«, fragte James.
    Ich durchsuchte meine Handtasche und förderte einen Kamm, einen kleinen Stoffbeutel, einen Spiegel, ein Taschentuch, ein Päckchen Kaugummi und eine Brieftasche zutage. Ich öffnete sie, und James zog eine Plastikkarte hervor, mit einem schwarzen Streifen auf der Rückseite und dem Schulwappen auf der anderen.
    »Das ist sie«, sagte er.
    »Ich wohne im Lambert Drive«, bemerkte ich, als ich meinen Führerschein gefunden hatte.
    »Anscheinend bist du bei der Fahrprüfung durchgefallen«, erklärte mir James, »sonst wäre ein Foto von dir darauf.«
    Ich steckte das Dokument wieder in die Brieftasche und tat so, als sei ich beleidigt, dass er tatsächlich glaubte, ich könne eine Prüfung nicht bestehen. Irgendetwas an dem Führerschein störte mich, doch ich hätte nicht sagen können, was.
    »Und wie ist dein Familienname?«
    Eine amüsante Frage, wenn man bedachte, was wir gerade miteinander getan hatten.
    »Thompson.«
    »Nun, Miss Thompson aus dem Lambert Drive«, sagte James, »möchtest du mit mir zu Mittag essen?«
    In meiner Kindheit hatte ein Paar vor der Hochzeitsnacht nicht einmal einen nackten Arm oder Fußknöchel voneinander zu sehen bekommen. Die bacchantische Hemmungslosigkeit, mit der die jungen Leute einander heutzutage erforschten – und das, ohne einander zu umwerben –, schockierte mich immer noch. Die Jungen und Mädchen versteckten sich zwischen den Regalen in der Bibliothek oder hinter der Sporthalle und fielen übereinander her, ohne sich Liebe oder Zärtlichkeit zu versprechen. Sie kosteten einander in dem ungeschickten Versuch, Genuss zu stehlen, bevor sie verletzt oder gehasst werden konnten.
    Doch bei James war nichts achtlos oder leichtsinnig, keine Bewegung war vergeudet. Sein Verlangen war schamlos, weil es so bedingungslos dargeboten wurde. Doch seine Leidenschaft war so ohne Arg, dass ich keine Verlegenheit für meine Lust empfand.
    Wir ließen die Büchertaschen unter unserem Baum stehen, und während wir das Büfett der Cafeteria abschritten, gab James mir leise Anweisungen.
    »Nimm das bloß nicht«, sagte er, als wir an drei dampfenden Schüsseln vorbeikamen, die aussahen, als seien sie mit Bratensauce gefüllt.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Das weiß keiner.«
    Ich wählte ein hartgekochtes Ei, ein Brötchen, einen großen roten Apfel und einen kleinen Karton Milch. James nahm ein Sandwich und eine Orange. Wir setzten uns ins Gras, wo er mir belustigt beim Essen zusah. Als er mir einen Teil seiner Orange gab, war ich einer Ohnmacht nahe. Bedächtig schälte und verzehrte ich mein Ei, dann das Brot und genoss dabei jeden Bissen. Die weiche Plastikfolie um James’ Sandwich hatte es mir besonders angetan. Dann probierte ich die Milch. »Sie schmeckt anders als die, an die ich mich erinnere«, sagte ich.
    »Moderne Kühe«, erwiderte James.
    Eine plötzliche Trauer ergriff mein Herz. Seit ich James kennengelernt hatte, waren bereits einige Rückblicke in meinem Kopf aufgeflackert. Diesmal sah ich das Bild eines hölzernen Melkschemels, der vom langjährigen Gebrauch schon ganz abgewetzt war. James brachte mich wieder in die Gegenwart zurück, als er mir einen Tropfen Milch aus dem Mundwinkel küsste. Wir ignorierten die Schüler, die hinter uns johlten.
    »Ich muss dich warnen, meine Familie ist sehr religiös«, sagte ich. »Erschrick nicht, wenn du sie triffst.«
    »Willst du damit sagen, deine Familie ist furchteinflößender als meine?«, fragte er.
    »Ja, aber auf eine andere Art«, antwortete ich.
    Tränen stiegen mir in die Augen, als ich in den Apfel biss und

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