Silberlicht
»Politik.«
Er atmete immer noch schwer. »Und in der dritten Stunde?«
»Bibliothekspraktikum.«
»Und in der vierten?«
»Lesesaal.«
»Wir treffen uns vor dem Lesesaal.«
Unsere Taschen lagen glücklicherweise immer noch auf dem Schulgelände, wo wir sie liegengelassen hatten. Er hob sie auf und legte mir den Trageriemen über die Schulter.
»James«, sagte ich. Es fühlte sich so gut an, seinen Namen laut auszusprechen.
Er lächelte. »Weißt du, wo dein Klassenzimmer ist?«
»Natürlich. Schließlich bin ich schon länger an dieser Schule als du.«
»Ich vergaß.« Er sah sich kurz um, legte seine Hand an meinen Hinterkopf und küsste mich erneut. Im nächsten Moment drehte er sich um und rannte den Weg hinauf.
Es gelang mir, meine nächste Unterrichtsstunde zu finden. Als ich das Klassenzimmer betrat, flogen die Köpfe zu mir herum.
»Es tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagte ich und machte einen kleinen Knicks. Jemand lachte, und die Lehrerin schrieb einen Vermerk in das Anwesenheitsbuch, doch eine Bestrafung erhielt ich nicht. Ich setzte mich in die hinterste Reihe und verstand kein Wort von dem, was gesprochen wurde. Ich konnte nur daran denken, wie weich James’ Haut über den harten Muskeln seiner Kehle gewesen war. Und an den sauberen, kühlen Waldgeruch seines Haares.
Mein Lehrbuch lag aufgeschlagen vor mir, doch die Worte standen wie Hieroglyphen vor meinen Augen. Ich starrte auf die weiße Fläche zwischen den Seiten, sah, wie kindlich meine dünnen Handgelenke und die kleinen Hände wirkten. Es war geradezu skandalös, dass ein so junger Körper vor Verlangen vibrierte. War ich sehr viel älter gewesen, als ich mich das erste Mal so gefühlt hatte? Nach Unterrichtsende ging ich in die Bibliothek, wo ich sehnsüchtig nach James Ausschau hielt. Doch vergeblich.
Das Bibliothekspraktikum bestand hauptsächlich darin, Bücher in die Regale einzusortieren. Ich rollte den vollgepackten Bücherwagen in den Gängen auf und ab. Einige Schüler saßen an den Pulten oder den langen Tischen im vorderen Bereich und arbeiteten. Einer schlief. Nachdem ich alle Bücher in die Regale sortiert hatte, suchte ich mir ein paar Romane und Lyrikbände aus, legte sie auf den Ausleihschalter und linste über den Stapel. »Wie viele darf ich auf einmal ausleihen?«
James fand mich bei den Wertstoffcontainern, wo ich neben meiner überquellenden Tasche stand. Er gab mir einen langen Kuss und hielt mich dabei an den Schultern, vielleicht, damit ich mich nicht mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn drückte. Dann versuchte er, meine Tasche aufzuheben.
»Meine Güte«, sagte er. »Was ist passiert?«
»Ich habe herausgefunden, dass man zwanzig Bücher auf einmal aus der Schulbibliothek ausleihen darf.«
»Du weißt, dass es mittlerweile Taschenbücher gibt, oder?« Er reichte mir seine Tasche und wuchtete meine mit beiden Händen nach oben. »Komm mit.«
Ich folgte ihm hinter die Aula, wo die Tür eines Notausgangs mit einem Holzkeil am Zufallen gehindert wurde. James vergewisserte sich, dass uns keiner beobachtete, und hielt mir die Tür auf. Es war stockdunkel. Ich berührte sein Gesicht, doch er sagte: »Warte.« Er ergriff meine Hand und führte mich in das Schultheater. Der enge Gang hinter der Bühne war mit Leitern und großen, auf Holzrahmen gespannten Leinwänden vollgestellt. Im Theater hallte es und roch nach Moder und Holzspänen wie in einer Höhle.
James schob unsere Taschen unter einen Tisch. Er deutete auf eine der Leitern, und ich kletterte, ohne zu zögern, hinauf, bis ich auf einer Plattform stand, die mit einem dicken schwarzen Vorhang wie ein samtenes Bett ausgelegt war. Ich konnte aufrecht stehen, doch James musste den Kopf einziehen. Es war wie in einem Baumhaus. So etwas hatte ich als Geist nie erlebt. Ich zog meine Schuhe aus und berührte den Stoff mit meinen nackten Füßen. Die Bühne lag sechs Meter unter uns wie ein wunderschöner See aus Dunkelheit.
»Miss Helen«, sagte James. »Ich will dich nicht kompromittieren.«
Er stand vor mir, den Kopf geneigt, eine Hand an dem Querbalken über ihm.
»Sollte ich die Situation auch nur im Geringsten ausnutzen …«
»Soweit ich weiß«, warf ich ein, »sind wir zwei die Einzigen unserer Art. Wer würde in Gottes Augen besser zusammenpassen als wir?«
Mehr brauchte er nicht zu wissen, um mir unter wilden Küssen die Kleider vom Leib zu reißen. Während ich mit seiner Jeans kämpfte, die viel zu viele Knöpfe hatte,
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