Silberlinge
Atommüll nicht schlimmer als Passivrauchen. Wenn du in seiner Nähe bist, entzieht es dir Stück für Stück die Lebenskraft. Wenn du es berührst, bist du auf der Stelle tot.«
»Genau«, bestätigte das Archiv. Sie trat vor und betrachtete Ortega und mich. »Ein Spruch hält die Partikel an Ort und Stelle. Das Objekt reagiert auf Willenskraft. Die Duellanten werden einander gegenüberstehen, das Mordit zwischen sich. Wer die größere Willenskraft aufbietet, bewegt das Mordit.
Das Duell endet, wenn es einen der beiden verschlungen hat.«
Autsch.
Das Archiv war noch nicht fertig. »Die Sekundanten sehen von der ersten und dritten Base aus zu und beobachten jeweils den Gegner ihres Duellanten. Mister Kincaid wird sicherstellen, dass kein Sekundant auf ungebührliche Weise stört. Ich habe ihn angewiesen, dabei mit äußerstem Nachdruck vorzugehen.«
Thomas schwankte leicht und beäugte das Archiv. »Was?«
Das Mädchen wandte sich direkt an ihn. »Wenn Sie sich einmischen, bringt er Sie um.«
»Oh«, sagte Thomas fröhlich. »Hab’s kapiert, Kleine.« Ortega starrte ihn böse an und gab ein angewidertes Geräusch von sich. Thomas starrte ins Leere und wich vorsichtshalber einen Schritt zurück.
»Ich werde beide Duellanten beobachten, um dafür zu sorgen, dass keine Energien eingesetzt werden. Auch ich werde jede Einmischung mit äußerstem Nachdruck unterbinden. Haben das alle verstanden?«
Ortega nickte.
»Ja«, sagte ich.
»Gibt es sonst noch Fragen, meine Herren?«, schloss das Archiv.
Ortega und ich schüttelten den Kopf.
»Jetzt kann jeder von Ihnen noch eine kurze Erklärung abgeben«, sagte das Archiv.
Ortega zog eine Kette mit schwarzen und silbernen Perlen aus der Tasche. Sofort spürte ich, welch starke defensive Energien sie barg. Er betrachtete mich mit beiläufigem Misstrauen, während er die Kette am linken Arm befestigte. »Das hier kann nur auf eine Weise enden.«
Meine Antwort bestand darin, dass ich das Gegenmittel aus der Tasche zog, den Deckel öffnete und die Flasche leerte. Ich rülpste und sagte: »Entschuldigung.«
»Du hast wirklich Stil, Dresden«, meinte Susan.
»Der Stil trieft mir aus allen Körperöffnungen«, stimmte ich zu. Ich gab ihr meinen Stab und den Sprengstock. »Halte das für mich fest.«
»Sekundanten, ziehen Sie sich bitte auf Ihre Positionen zurück«, ordnete das Archiv an.
Susan legte mir eine Hand auf den Arm und drückte zu. Ich berührte kurz ihre Hand, dann ließ ich sie los und ging zur dritten Base.
Thomas wollte mit Ortega abklatschen, doch der adlige Vampir starrte ihn nur böse an, worauf Thomas sein bestes Colgatelächeln aufsetzte und zur ersten Base torkelte. Unterwegs zog er aus der Gesäßtasche einen silbernen Flachmann und trank einen Schluck.
Das Archiv blickte zwischen Ortega und mir hin und her. Es stand neben der schwebenden kalten Energiekugel auf dem Pitcher’s Mound und war damit ein wenig größer als Ortega, aber immer noch kleiner als ich. Das feierliche, sogar grimmige Gesicht passte nicht zu einem Mädchen, das am Morgen früh aufstehen und in die Schule gehen musste.
»Sind Sie beide zu diesem Duell entschlossen?«
»Das bin ich«, sagte Ortega.
»Hm-hm«, machte ich.
Das Archiv nickte. »Dann heben Sie jetzt bitte die rechte Hand.«
Mit einander zugewandten Handflächen stellten Ortega und ich uns auf. Das Archiv machte eine Geste, woraufhin die Morditkugel herüberflog und genau zwischen Ortega und mir schwebte. Ich spürte den Druck auf meiner Handfläche – es fühlte sich ungefähr so an, als würde ich die Hand in den Strahl einer Einlassöffnung im Schwimmbecken halten. Ich holte tief Luft, konzentrierte mich und machte mich bereit. Wäre ich an Ortegas Stelle gewesen, dann hätte ich gleich zu Beginn der Prüfung mit allem zugeschlagen, was mir zu Gebote stand, um die Sache augenblicklich zu Ende zu bringen. Nach einigen tiefen Atemzügen nahm ich nur noch die tödliche Dunkelheit vor mir wahr.
»Beginnen Sie«, sagte das Archiv.
Ortega stieß einen Kampfschrei aus und beugte sich mit ausgestrecktem Arm vor, als wollte er einen schweren Panzerschrank schließen. Ungezügelt und mit voller Wucht schlug mir seine Willenskraft entgegen, so dass ich fast zurückgetaumelt wäre. Die Morditkugel sauste mir entgegen.
Ortega besaß einen sehr starken Willen. Ich versuchte, den Ansturm abzulenken, zu überwinden und die Kugel aufzuhalten. Fast geriet ich in Panik, als ich beim ersten Versuch nichts in mir fand.
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