Silberlinge
Freunde, die Sie heute haben, sind dann dahin, während Sie in der Blüte des Lebens stehen. Sie sehen wie ein Sterblicher aus, Dresden, nur das sind Sie nicht.«
»Ach, halten Sie doch den Mund.«
»Sie sind anders. Sie sind ein Außenseiter. In dieser Millionenstadt gibt es keinen Zweiten, der so ist wie Sie.«
»Das erklärt, warum ich mich so selten mit Frauen verabrede.« Es klang nicht so witzig wie beabsichtigt. Meine Kehle wurde eng.
Nikodemus ließ den Diener auch Deirdre Kaffee einschenken, löffelte ihr jedoch eigenhändig den Zucker in die Tasse. »Sie fürchten sich, aber das muss nicht sein. Sie stehen über den anderen Menschen. Eine völlig neue Welt wartet auf Sie. Es gibt unzählige neue Wege, die Sie einschlagen könnten. Verbündete, die eine ebenso lange Lebensspanne haben wie Sie, und die Sie akzeptieren, statt Sie zu verachten. Sie könnten herausfinden, was mit Ihren Eltern passiert ist, und Rache üben. Finden Sie Ihre Angehörigen und einen Ort, an dem Sie sich wirklich heimisch fühlen.«
Er hatte die richtigen Worte gewählt, um meine älteste Wunde aufzureißen, einen Schmerz aus meiner Kindheit, der nie wirklich abgeklungen war. Es tat weh, all das zu hören, und es rührte an alte, vergebliche Hoffnungen und eine traurige Sehnsucht. Ich fühlte mich verloren und leer.
Einsam.
»Harry«, fuhr Nikodemus beinahe mitfühlend fort, »ich war auch mal so wie Sie. Sie sitzen in der Falle, und Sie machen sich was vor. Sie tun so, als wären Sie wie alle anderen Sterblichen, weil Sie zu große Angst haben zuzugeben, dass Sie es nicht sind.«
Darauf wusste ich keine Antwort. Die Silbermünze funkelte vor mir.
Nikodemus nahm wieder das Messer in die Hand. »Ich fürchte, ich muss Sie bitten, sich sofort zu entscheiden.« Gierig betrachtete Deirdre erst das Messer, dann mich, und leckte ein paar verirrte Zuckerkrümel vom Rand ihrer Tasse. Was, wenn ich die Münze nähme? Wenn Nikodemus die Wahrheit sagte, dann konnte ich wenigstens überleben und den Kampf fortsetzen. Zweifellos würde er mich sonst töten, genau wie Gaston LaRouche, Francisca Garcia und den armen Kerl, den Butters seziert hatte. Nichts vermochte ihn aufzuhalten, und da ich unter fließendem Wasser stand, konnte ich mich nicht einmal völlig auf meinen Todesfluch verlassen.
Immer wieder musste ich daran denken, wie es sich anfühlen würde, hier unter dem kalten Wasser zu verbluten, mit einem heißen, brennenden Schnitt in der Kehle. Benommenheit und Kälte. Schwäche, die auf einmal in Wärme umschlägt, bis die gnädige vollkommene Dunkelheit kommt. Der Tod.
Gott hilf mir, ich wollte nicht sterben.
Doch ich hatte den armen Kerl gesehen, den Ursiel versklavt und in den Wahnsinn getrieben hatte. Wenn ich die Münze nahm, konnte mich der darin hausende Dämon durchaus auf den gleichen Weg zwingen oder mich verführen, ihn zu gehen. Ich bin kein Heiliger und in moralischer Hinsicht alles andere als ein leuchtendes Vorbild. Schon vor vielen Jahren hatte ich dunkle Antriebe in mir gespürt, die mich fasziniert und angezogen hatten. Mehr als einmal hatte ich solchen Impulsen nachgegeben.
Das war eine Schwäche, die der Dämon in der alten Münze ausnutzen konnte. Ich war nicht immun gegen jede Versuchung. Der Dämon, der Gefallene, würde mich hineinziehen. Genau das tun die Gefallenen.
Ich entschied mich.
Nikodemus beobachtete mich gelassen, das Messer ruhig in der Hand.
»Führe uns nicht in Versuchung«, sagte ich, »sondern erlöse uns von dem Übel. War es nicht so?«
Deirdre leckte sich über die Lippen. Der Handlanger klappte das Kästchen zu und zog sich zurück.
»Sind Sie sicher, Dresden?«, fragte Nikodemus leise. »Das ist Ihre letzte Chance.«
Innerlich sackte ich zusammen. Großspurigkeit konnte mir jetzt auch nicht mehr helfen. Ich hatte mich entschieden, und das war’s dann. »Ich bin sicher. Leck mich, Nick.«
Nikodemus starrte mich noch einen Moment an, dann stand er auf. »Ich glaube, ich bin mit dem Frühstück fertig.«
22. Kapitel
Nikodemus näherte sich mir mit leicht abwesendem Blick. Zu meinem Schrecken wurde mir klar, dass er den Eindruck eines Mannes erweckte, der seine Aufgaben für den beginnenden Tag plant. Ich war für ihn keine Person mehr, sondern nur noch eine Notiz im Terminkalender. Mir den Hals durchzuschneiden war für ihn nicht mehr als ein Häkchen auf der Aufgabenliste.
Als er nur noch eine Armeslänge von mir entfernt war, wollte ich unwillkürlich
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