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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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andächtigem Stolz betrachtete er ihr dunkelbraunes Haar, die langen Wimpern ihrer geschlossenen Augen, die Stupsnase, den lachenden Mund … selbst noch im Schlaf lächelte sie.
    Wie hatte er, der untersetzte, vierschrötige Ivor, es nur geschafft, so gutaussehende Söhne hervorzubringen, eine so liebliche Tochter?
    Alle Angehörigen des dritten Stammes waren seine Kinder, aber diese hier, diese …
     
    Torc hatte bisher eine unangenehme Nacht verbracht. Als erstes hatten es die zwei Idioten, die hierhergekommen waren, um zu fasten, ohne voneinander zu wissen, geschafft, sich im Abstand von nur sieben Metern auf gegenüberliegenden Seiten eines Gestrüpps im Hain niederzulassen. Lächerlich. Was für Kinder schickte man doch heutzutage in die Welt hinaus.
    Mit einer Reihe schnaubender Grunzlaute, die in der Tat recht besorgniserregend klangen, war es ihm gelungen, zumindest den einen fünfhundert Meter weit in die Flucht zu schlagen. Das bedeutete wohl Einmischung in das Ritual, nahm er an, aber die Fastenzeit hatte kaum begonnen, und in jedem Fall brauchten diese Knaben jede Hilfe, die sie bekommen konnten. Der Menschengeruch in jenem Gestrüpp war so stark gewesen, dass sie womöglich am Ende nur sich gegenseitig als Totemtier gefunden hätten.
    Das, dachte er, ist komisch. Es gab nicht viel, was Torc komisch fand, aber die Vorstellung zweier fastender Dreizehnjähriger, die sich gegenseitig zum heiligen Tier wurden, ließ ihn im Dunkeln lächeln.
    Er hörte zu lächeln auf, als er bei seinem Rundgang im Hain eine Spur entdeckte, die er nicht zu deuten wusste. Gleich darauf wurde ihm jedoch klar, dass es sich um einen Urgach handeln musste, und das war mehr als schlimm. Svart Alfar hätten ihn nicht gestört, es sei denn, sie wären in großer Zahl aufgetreten. Er hatte auf seinen einsamen Streifzügen nach Westen in Richtung Pendaran kleine Gruppen von ihnen zu Gesicht bekommen. Bei dieser Gelegenheit hatte er auch die Spuren einer sehr großen Horde entdeckt, mit Wölfen darunter. Das war vor einer Woche gewesen, und sie zogen recht schnell nach Süden. Keine sehr angenehme Entdeckung war es gewesen, und er hatte Ivor und Levon, welcher der Anführer der Jagd war, davon Bericht erstattet, auch wenn es sie vorerst nicht direkt betraf.
    Dies hier betraf sie allerdings. Er hatte nie einen der Urgach gesehen, kein Angehöriger des Stammes hatte einen gesehen, aber es gab genügend Legenden und nächtliche Märchen, um ihn große Vorsicht walten zu lassen. Er erinnerte sich gut an diese Märchen, aus den Tagen vor der schlimmen Zeit, als er nichts als ein Kind des dritten Stammes gewesen war, ein Kind wie jedes andere, das wohlig erschauernd am Lagerfeuer hockte und nur fürchtete, seine Mutter könne es ins Bett schicken, während die Alten ihre Geschichten erzählten.
    Kniend über die Fährte gebeugt verzog Torc sein hageres Gesicht in grimmige Falten. Hier war nicht der Pendaranwald, wo man damit rechnen konnte, dass Kreaturen der Finsternis sich umtrieben. Ein Urgach, oder mehr als einer, im Faelinnhain, dem Glückswald des dritten Stammes, das war eine ernste Sache. Mehr als nur ernst war es: Heute Nacht verbrachten hier zwei Kinder ihre Fastenzeit.
    Lautlos folgte Torc der schwerfälligen, beinahe überwältigend deutlichen Spur und entdeckte bestürzt, dass sie in östlicher Richtung aus dem Hain hinausführte. Urgach auf der Ebene! Finstere Dinge gingen da vor. Zum allerersten Mal zweifelte er die Richtigkeit der Entscheidung des Häuptlings an, während dieses Sommers im Nordwesten zu bleiben. Sie waren allein. Weit weg von Celidon, weit entfernt von allen anderen Stämmen, die sich mit ihnen zum Kampf gegen das Böse hätten vereinigen können, das sich hier möglicherweise regte. Kinder des Friedens wurden die Dalrei genannt, aber manchmal war dieser Frieden hart erkämpft gewesen.
    Torc bereitete es keine Schwierigkeiten, allein zu sein, während seines gesamten Erwachsenenlebens war er allein gewesen. Den Ausgestoßenen nannten ihn spöttisch die Jungen. Den Wolf. Törichte Kinder: Wölfe jagten im Rudel. Wann hatte er sich je im Rudel bewegt? Die Einsamkeit hatte bei ihm einige Verbitterung hervorgerufen, denn er war noch jung, und die Erinnerung an bessere Zeiten war frisch genug, um eine Wunde zu sein. Obendrein war er dadurch zu einem ernsten Grübler geworden, in den langen, in völliger Dunkelheit verbrachten Nächten, die ihm den Blick eines Außenseiters für die Taten der Menschen gegeben

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