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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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zwischen den Feuern; mitten zwischen den Sternen, so kam es ihm vor.
    Einen Augenblick lang verweilte der dritte Stamm noch in ihrem Bann, dann kam explosionsartig ein Jubel auf, der weit über die Grenzen des Lagers hinaus zu hören gewesen sein musste, über das Licht von Menschenhand hinaus, dachte Ivor, weit hinaus in die dunkle Weite der nächtlichen Ebene.
    In diesem Moment hielt er Ausschau nach Leith und entdeckte sie zwischen den Frauen auf der anderen Seite der Feuer. Keine Tränen für sie; diese Sorte Frau war sie nicht. Aber er kannte sie nach so vielen Jahren gut genug, um den Ausdruck auf ihrem Gesicht deuten zu können. Sollte der Stamm die Gemahlin des Häuptlings ruhig für kühl, tüchtig und beherrscht halten; er wusste es besser.
    Er grinste ihr zu und lachte, als sie errötete und den Blick abwandte, als sei sie entlarvt worden.
    Noch immer hatte sich der Stamm nicht über den Höhepunkt des Tanzes und den tödlichen Kampf beruhigt, der ihn veranlasst hatte. Selbst hier hatte sich Liane als eigensinnig erwiesen, denn er war sich keineswegs sicher, dass er sich entschlossen hätte, seinem Volk auf diese Weise von dem Urgach zu berichten, und zweifellos war es an ihm, darüber zu entscheiden. Verbergen ließ es sich nicht, denn die Auberei mussten die Neuigkeit auf ihren morgigen Ritt nach Celidon mitnehmen, aber dennoch schien es ihm, als habe sein mittleres Kind wieder einmal seinen Willen durchgesetzt.
    Doch wie hätte er nach alledem böse sein sollen? Es war immer so schwer, fand Ivor, längere Zeit auf Liane böse zu sein. Leith konnte das viel besser. Mütter und Töchter; da herrschte weniger rückhaltlose Begeisterung.
    Außerdem hatte sie die Angelegenheit richtig eingeschätzt, dachte er, während er zusah, wie sie zu Torc und dem Fremden hinüberging und beide küsste. Beim Anblick des errötenden Torc kam er zu dem Schluss, dass die Tatsache, dass sein Stamm den Ausgestoßenen wieder in seiner Mitte aufnahm, heute Nacht nicht der geringste Anlass zur Freude war.
    Und dann erhob sich Gereint.
    Es war bemerkenswert, wie gut der Stamm auf ihn eingestimmt war. Sobald der blinde Schamane auf den Platz zwischen den Feuern getreten war, sorgte irgendein kollektiver Instinkt selbst beim trunkensten Jäger für Aufmerksamkeit. Gereint musste sie niemals mit einer Geste oder durch Abwarten zum Schweigen bringen.
    Vorhin ist er mir noch lächerlich vorgekommen, überlegte Ivor angesichts des Schamanen, der sich nun ohne fremde Hilfe zwischen den Flammen hindurchbewegte. Jetzt nicht mehr. Wie er auch aussehen mochte, wenn ihm der Eltorsaft vom Kinn tropfte, als Gereint in dieser Nacht aufstand, um zu den Stammesleuten zu sprechen, war seine Stimme die Stimme der Macht. Er sprach für Ceinwen und für Cernan, für den Nachtwind und den Wind, der sich im Morgengrauen erhob, für die gesamte Welt des Nichtsichtbaren. Die leeren Höhlen seiner Augen legten Zeugnis davon ab. Er hatte den Preis gezahlt.
    »Cernan hat mich im Grau der Dämmerung aufgesucht«, begann Gereint ruhig. Cernan, dachte Ivor, der Gott der Wildnis, des Waldes und der Ebene, Herrscher über die Eltors, Bruder und Zwilling Ceinwens vom Bogen.
    »Ich habe ihn deutlich gesehen«, fuhr Gereint fort. »Das Geweih auf seinem Kopf, siebenzackig, wie es einem König geziemt, das dunkle Blitzen seiner Augen, seine majestätische Gestalt.« Ein Laut wie der Wind im hohen Gras durchlief die Menge.
    »Er hat mir einen Namen genannt«, sagte Gereint. »Ein Ding, wie es mir während all meiner Tage niemals begegnet ist. Cernan hat mir am heutigen Morgen den Namen Tabor dan Ivor genannt und ihn zur Fastenzeit gerufen.«
    Tabor. Und nicht einfach vom Schamanen benannt nach einem Traum. Gerufen von dem Gott selbst. Ein ehrfürchtiger Schauer rührte Ivor an wie eine gespenstische Hand in der Finsternis. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, auf der Ebene ganz, allein zu sein. Bei ihm war ein Schatten, nur ein Schatten, doch es handelte sich um den Gott. Cernan kannte seinen Namen; Tabor dan Ivor hatte er gerufen.
    Der hohe Schrei einer Frau sorgte ganz ohne weitere Umstände dafür, dass der Häuptling in die Realität des Lagers zurückgeholt wurde. Liane, natürlich. Er wusste es, ohne hinzusehen. Sie flog geradezu über den Platz, warf in ihrer Hast beinahe den Schamanen um und eilte an Tabors Seite, nicht länger ein roter Tanz- und Feuergeist, nur noch ein quecksilbriges, ungestümes Mädchen, das seinen Bruder ganz fest umarmt. Levon,

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