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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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diesem Gedanken, das merkte er, schreckte er zurück; er war zu gefährlich, um ihn auch nur insgeheim aufkommen zu lassen.
    Neben ihm saß Torc still da, die dunklen Augen im Verborgenen; erwirkte gedankenverloren. Nun, dachte Dave, ein Ausgestoßener wird er nun nie mehr sein, nicht nach den Ereignissen der vergangenen Nacht.
    Da kam ihm die Erinnerung. Auch für ihn war das eine erschöpfende Nacht gewesen. Nicht weniger als drei Mädchen hatten Ivors Schwelle betreten und sich in den Raum begeben, wo Dave schlief. Beziehungsweise doch nicht schlief.
    Gott, erinnerte er sich, gedacht zu haben, ich wette, nach so einem Fest werden neun Monate später eine Menge Kinder geboren. Er war zu dem Schluss gekommen, dass dies ein gutes Leben war, ein Reiter der Dalrei zu sein, vom dritten Stamm, von den Kindern Ivors.
    Er richtete sich unvermittelt auf. Torc warf ihm einen Seitenblick zu, sagte jedoch nichts. Du hast einen Vater, ermahnte Dave sich streng. Und eine Mutter und einen Bruder. Du bist Jurastudent aus Toronto, und Basketballspieler, Himmel noch eins.
    »In dieser Reihenfolge?« erinnerte er sich der spöttischen Frage von Kim Ford, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren; oder hatte Kevin Laine es in umgekehrter Reihenfolge aufgezählt? Er wusste es nicht mehr. Schon schien die Zeit vor dem Übergang erstaunlich weit zurückzuliegen. Die Dalrei sind wirklich, dachte Martyniuk. Diese Axt, der Hain, Torc Menschen wie er. Und da war noch mehr.
    Seine Gedanken schlugen erneut einen Bogen zur vergangenen Nacht, und diesmal richteten sie sich auf das, worauf es ankam, mehr als es sollte, mehr, das wusste er, als er zulassen durfte. Und doch war es so. Er lehnte sich wieder gegen den Baum und gab sich der Erinnerung hin.
    Liane hatte ihn geküsst, als ihr Tanz vorüber war.
     
    Sie hörten es gleichzeitig: etwas, das mit großem Radau durch die Bäume krachte. Torc, ein Kind der Nacht und des Waldes, wusste sogleich Bescheid – nur jemand, der gehört werden wollte, würde so viel Lärm entfachen. Er machte sich nicht die Mühe, aufzustehen.
    Dave dagegen hüpfte das Herz vor Besorgnis. »Was, zum Teufel, ist das?« flüsterte er wildentschlossen und griff nach seiner Axt.
    »Ihr Bruder, denke ich«, sagte Torc unbedacht und fühlte, dass er in der Dunkelheit tiefrot wurde.
    Selbst Dave, der bestimmt kein einfühlsamer Mann war, konnte das kaum entgangen sein. Als Levon endlich zwischen den Bäumen hervortrat, fand er die beiden in unbehaglichem Schweigen beisammensitzend.
    »Ich konnte nicht schlafen«, brachte er als Entschuldigung vor. »Ich dachte, ich könnte mit euch Wache halten. Nicht, dass ihr mich brauchen würdet, aber …«
    Levon war tatsächlich ohne Arg, frei von Überheblichkeit. Der Mann, der gerade erst wie Revor getötet hatte, der eines Tages den ganzen Stamm anführen würde, erbat doch tatsächlich schüchtern um Nachsicht.
    »Natürlich«, sagte Dave. »Er ist euer Bruder. Kommt und setzt Euch.«
    Torc brachte es nur auf ein knappes Kopfnicken. Doch das Schlagen seines Herzens verlangsamte sich wieder, und nach einer Weile kam er zu dem Schluss, dass es ihn eigentlich nicht so sehr störte, wenn Davor Bescheid wusste. Ich habe noch nie einen Freund gehabt, dachte er plötzlich. Über Dinge dieser Art spricht man mit Freunden.
    Es ging schon in Ordnung, dass Levon gekommen war; Levon war anders als alle anderen. Und er hatte am vergangenen Morgen etwas vollbracht, was Torc vielleicht nie zu versuchen gewagt hätte. Diese Erkenntnis war hart für einen stolzen Mann, und ein anderer hätte Levon womöglich deswegen gehasst. Torc jedoch maß an solcherlei Dingen seinen Respekt. Zwei Freunde, dachte er, ich habe hier zwei Freunde.
    Obwohl er nur zu einem von ihnen über sie sprechen konnte. Und der hatte eigene Probleme. Er hatte Tores Ausrutscher bemerkt, und nun verspürte Dave das Bedürfnis, zu ergründen, was sich daraus für Folgen ergeben mochten. Er stand auf. »Ich werde mal nach ihm sehen«, gab er vor. »Bin gleich wieder da.«
    Doch er kam nicht recht zum Nachdenken. Die Situation gehörte nicht zu jenen, mit denen Dave Martyniuk umgehen konnte, deshalb entzog er sich ihr. Er trug die Axt in der Hand und bemühte sich, damit nirgendwo anzustoßen; er versuchte, sich so leise fortzubewegen, wie es Torc im Walde tat. Es ist ja gar keine besondere Situation, sagte er sich schroff. Schließlich reise ich morgen ab.
    Er hatte laut gesprochen. Ein nächtlicher Vogel flog plötzlich

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