Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
Vom Netzwerk:
gab sie nicht, und doch würde sie, das wusste er, als er spürte, wie sie in ihn eindrang, ein Teil von ihm werden wie er von ihr, und er erfuhr ihren Namen im gleichen Atemzug mit der Erkenntnis, was das war, das zu finden und von dem gefunden zu werden der Gott ihn gerufen hatte.
    Kurz davor, im allerletzten Moment, hörte das jüngste Kind Ivors sich aus weiter Ferne flüstern, so als kämen die Worte von einem anderen: »Ein Adler hätte doch auch gereicht.«
    Das stimmte. Ein Adler wäre mehr als genug gewesen, aber es war anders gekommen. Die Kreatur stand völlig reglos vor ihm und schien seinen Gedanken zu verstehen. Da spürte er ihre Antwort ganz sacht in seinem Kopf. Weise mich nicht zurück, hörte er wie von innen heraus, während ihre großen, erstaunlichen Augen unverwandt auf ihm ruhten. Wenn das Ende naht, haben wir nur einander.
    Er verstand. Sie drang in seine Gedanken ein, und dann in sein Herz. Sie drang in ungeheure Tiefen vor; er hatte nicht gewusst, dass solche Tiefen in ihm lagen. Er reagierte, indem er die Hand ausstreckte. Die Kreatur senkte den Kopf, und Tabor berührte das dargebotene Horn.
    »Imraith-Nimphais«, sagte er, erinnerte er sich, gesagt zu haben, bevor es im Universum dunkel wurde.
     
    »Holla!« rief Ivor fröhlich. »Seht, wer da kommt! Frohlocket, denn seht, der Weber schickt uns einen neuen Reiter.«
    Doch als Tabor näher kam, konnte Ivor erkennen, dass eine schwierige Fastenzeit hinter ihm lag. Er hatte sein Tier gefunden – das war aus jeder seiner Bewegungen abzulesen – aber er hatte es dabei offensichtlich schwer gehabt. Das war nicht weiter ungewöhnlich, das war sogar gut. Anzeichen tieferer Verschmelzung mit dem Totemtier.
    Erst als Tabor dicht vor ihm stand, empfand Ivor zum ersten Mal echte Besorgnis.
    Kein Knabe kehrte vom richtigen Fasten zurück und sah genauso aus wie zuvor; sie waren dann keine Knaben mehr, das musste sich in ihren Gesichtern niederschlagen. Doch was er in den Augen seines Sohnes las, ließ Ivor bis ins Mark erschauern, selbst im morgendlichen Sonnenschein mitten im Lager.
    Niemand sonst schien etwas zu bemerken; der Begrüßungstrubel hallte so laut wie immer, wenn nicht noch lauter, dem Sohn des Häuptlings zuliebe, den der Gott gerufen hatte.
    Gerufen, doch wozu? dachte Ivor, während er neben seinem jüngsten Kind Gereints Haus zuschritt. Gerufen, doch wozu?
    Aber er lächelte, um seine Besorgnis zu verbergen, und sah, dass Tabor es ihm gleichtat; nur mit dem Mund, nicht mit den Augen, und Ivor konnte einen krampfhaft zuckenden Muskel spüren, wo er den Arm seines Sohnes umfasst hielt.
    An Gereints Tür angekommen klopfte er, und die beiden traten ein. Drinnen war es dunkel, wie immer, und die Laute der Außenwelt verblassten zu einem fernen, erwartungsvollen Murmeln.
    Sicheren Schritts, aber irgendwie vorsichtig trat Tabor vor und kniete vor dem Schamanen nieder. Gereint berührte zärtlich seine Schulter. Dann hob Tabor den Kopf.
    Sogar im Dunkeln bemerkte Ivor Gereints gewaltsam unterdrückte Geste der Überraschung. Er und Tabor blickten einander an, dem Anschein nach lange, lange Zeit.
    Endlich ergriff Gereint das Wort, doch es waren nicht die rituellen Worte. »So etwas gibt es nicht«, stieß der Schamane hervor. Ivor ballte die Fäuste.
    Tabor entgegnete: »Bisher noch nicht.«
    »Ihr habt euch wahrhaft gefunden«, fuhr Gereint fort, als hätte er nicht zugehört. »Aber so ein Tier gibt es nicht. Du hast es in dir aufgenommen?«
    »Ich denke, ja«, antwortete Tabor, und in seiner Stimme lag nun unendliche Erschöpfung. »Versucht habe ich es. Ich denke, es ist mir gelungen.«
    »Das denke ich auch«, sagte Gereint mit verwunderter Stimme. »Das ist eine gewaltige Sache, Tabor dan Ivor.«
    Tabor machte eine abschwächende Geste; das schien die letzten Reserven seines Durchhaltevermögens zu erschöpfen. »Es ist halt nur gekommen«, hauchte er und brach seitwärts zusammen, vor die Füße seines Vaters.
    Während auch er niederkniete, um seinen bewusstlosen Sohn in die Arme zu nehmen, hörte Ivor den Schamanen mit jener Stimme verkünden, die den Ritualen vorbehalten war: »Seine Stunde kennt seinen Namen.« Und dann fügte er in geändertem Tonfall hinzu: »Mögen alle Mächte der Ebene ihn beschützen.«
    »Wovor?« fragte Ivor, obwohl er wusste, dass ihm das nicht zustand.
    Gereint drehte sich um und sah ihm ins Gesicht. »Das würde ich dir verraten, wenn ich könnte, alter Freund, doch ehrlich gesagt, weiß ich es

Weitere Kostenlose Bücher