Silbermantel
wie ein Sockel oder eine Säule, über mannshoch, und davor war ein niedriger Altar aufgestellt, auf dem eine rein weiße Flamme brannte. Die Seitenflächen des Pfeilers waren mit Abbildungen königlicher Mannen bedeckt, und in einem Hohlraum auf der Spitze der Säule ruhte ein Stein, etwa von der Größe einer Kristallkugel; und Paul sah, dass dieser Stein sein eigenes Licht ausstrahlte, und die Farbe der Lichtstrahlen war blau.
Als sie wieder in den Raum zurückgekehrt waren, den sie zuvor verlassen hatten, entdeckte Paul auf einem Tisch am Fenster einen dritten Kelch und goss für sie alle Wein ein. Brendel nahm zwar seinen Becher entgegen, begann jedoch sofort, rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen. Ailell hatte sich wieder in seinem Sessel am Spielbrett niedergelassen. Paul, der die Szene vom Fenster aus beobachtete, sah den Lios Alfar dem rastlosen Auf und Ab ein Ende machen und vor dem König stehen bleiben.
»Wir vertrauen den Wachtsteinen, weil wir müssen, Großkönig«, begann er leise, beinahe sanft. »Aber Ihr wisst, dass es noch andere Kräfte gibt, die der Finsternis dienen, und manche von ihnen sind mächtig. Ihr Fürst mag immer noch im Rangat eingeschlossen sein, aber das Land wird eben jetzt von Mächten des Bösen überzogen, die wir nicht außer acht lassen dürfen. Habt Ihr sie nicht als Ursache eurer Dürre erkannt, Großkönig? Wie könnte es anders sein? Es regnet in Cathal und auf der Ebene. Nur in Brennin wird die Ernte missraten. Nur –«
»Schweigt!« Ailells Stimme klang schrill und scharf wie ein Peitschenhieb. »Ihr wisst nicht, wovon Ihr sprecht. Versucht nicht, Euch in unsere Angelegenheiten einzumischen!« Der König beugte sich in seinem Sessel vor und fixierte die schlanke Gestalt des Lios Alfar mit finsterem Blick, Auf seinem Gesicht zeichneten sich über dem dünnen Bart zwei grellrote Flecke ab.
Na-Brendel hielt inne. Er war nicht groß, aber in diesem Moment schien er zu wachsen, während er den Großkönig ansah.
Als er schließlich zum Sprechen ansetzte, geschah dies ohne Stolz oder Bitterkeit. »Ich beabsichtigte nicht, Euch zu erzürnen«, versicherte er. »Am allerwenigsten an diesem besonderen Tag. Doch ich fühle in meinem Herzen, dass kaum eines der Ereignisse der kommenden Zeit als Angelegenheit eines einzelnen Volkes betrachtet werden darf. Darin liegt die Bedeutung von Ra-Tenniels Geschenk. Ich bin froh, dass Ihr es angenommen habt. Ich werde meinem Fürst Eure Nachricht überbringen.« Er verbeugte sich sehr tief, drehte sich um, verließ den Raum durch die Tür in der Wand und legte im Gehen Umhang und Kapuze an. Die Tür glitt hinter ihm geräuschlos zu, und dann erinnerte nichts mehr daran, dass er je dagewesen war, außer dem schimmernden Glaszepter, das Ailell mit den zitternden Händen eines Greises hin und her drehte.
An seinem Platz am Fenster konnte Paul hören, wie jetzt ein anderer Vogel seine Stimme zum Gesang erhob. Er nahm an, dass die Morgendämmerung bald hereinbrechen musste, aber sie befanden sich auf der Westseite des Palastes, und der Himmel war noch dunkel. Er fragte sich, ob der König seine Anwesenheit wohl völlig vergessen habe. Nach einiger Zeit jedoch stieß Ailell einen müden Seufzer aus, legte das Zepter neben dem Spieltisch ab und trat langsam näher, um neben Paul stehend aus dem Fenster zu blicken. Von ihrem Standort aus konnte Paul erkennen, dass das Land nach Westen hin abfiel, und weit in der Ferne erhoben sich die Bäume eines Waldes als tieferer Schatten vor der Dunkelheit der Nacht.
»Verlasst mich jetzt, Freund Pwyll«, bat Ailell endlich in freundlichem Ton. »Ich bin müde geworden und möchte allein sein. Müde«, wiederholte er, »und alt. Sollten tatsächlich die Mächte der Finsternis im Land umgehen, kann ich heute Nacht nichts mehr gegen sie unternehmen, es sei denn, ich sterbe. Und ich möchte wahrhaftig nicht sterben, weder ›am Baum‹ noch sonst wie. Sollte darin mein Versagen liegen, kann ich es nicht ändern.« Sein Blick war abwesend und traurig, als er aus dem Fenster zum fernen Wald hinüberblickte.
Paul räusperte sich verlegen. »Ich glaube nicht, dass in dem Wunsch, zu leben, ein Versagen liegt.« Seine Worte kamen nach allzu langem Schweigen krächzend hervor; ein widersprüchliches Gefühl regte sich in seinem Innern.
Da lächelte Ailell, wenn auch nur mit den Lippen, und fuhr fort, in die Dunkelheit hinauszustarren. »Für einen König könnte darin sehr wohl eines liegen, Pwyll. Der
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