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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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ungelenker Hand durch das dichte Haar, das ihm in die Stirn fiel. »Ich werde ein richtiges Bett aufstellen. Aber da ist noch etwas, das ich gesehen habe und wovon Ihr wissen solltet …«
    »Die Wölfe?« fragte Ysanne ruhig. Nach einem Moment der Verwirrung nickte Tyrth. »Ich habe sie vor einigen Nächten gesehen«, fuhr die Seherin fort. »Im Schlaf. Wir können kaum etwas dagegen tun. Ich habe gestern im Palast Loren davon berichtet.«
    »Die Sache gefällt mir nicht«, murmelte Tyrth. »Solange ich lebe sind Wölfe noch nie so weit nach Süden vorgedrungen. Und es sind große Tiere. Größer, als sie eigentlich sein dürften.« Und mit einer Kopfbewegung spuckte er in den Staub des Hofes, ehe er noch einmal über seine Stirn strich und sich vom Fenster abwandte. Als er sich entfernte, bemerkte Kim, dass er humpelte, wobei er den linken Fuß schonte.
    Ysanne folgte ihrem Blick. »Ein Knochenbruch«, sagte sie. »Vor vielen Jahren nachlässig gerichtet. Er wird sein ganzes Leben so gehen müssen. Doch es ist ein Glück, dass ich ihn habe – kein anderer würde einer Hexe dienen.« Sie lächelte. »Deine Unterweisung sollte heute Abend beginnen, meine ich.« »Womit?« Ysanne wies mit dem Kopf auf die Bannblume, die auf dem Tisch lag. »Es beginnt mit der Blume«, erklärte sie. »So war es vor langer Zeit bei mir.«
     
    Der abnehmende Mond ging erst spät auf, und es war bereits vollkommen dunkel, als sich die beiden Frauen in seinem Lichte aufmachten, um das Ufer des Sees aufzusuchen. Es wehte eine sanfte, kühle Brise, und das Wasser plätscherte sacht an das Gestade wie eine Liebkosung. Über ihnen spannte sich der sommerliche Sternenhimmel wie Filigranwerk.
    Ysannes Gesicht hatte einen strengen, in die Ferne gerichteten Ausdruck angenommen. Als Kim sie ansah, hatte sie eine beunruhigende Vorahnung. Die Achse ihres Lebens verschob sich, und sie wusste nicht, wie oder wohin, nur dass sie gelebt hatte, um eines Tages hier an diesem Ufer zu stehen.
    Ysanne richtete ihre schmächtige Gestalt hoch auf und betrat einen flachen Felsvorsprung, der über den See hinausragte. Beinahe grob bedeutete sie Kim, sich neben sie auf den Fels zu setzen. Es war nichts zu hören außer dem Wind in den Bäumen und dem leisen Plätschern des Wassers gegen das Ufergestein. Dann hob Ysanne beide Arme in einer Geste machtvoller Anrufung und sprach mit einer Stimme, die einer Glocke gleich über den nächtlichen See hinausklang.
    »Höre mich, Eilathen!« rief sie. »Höre meine Anrufung, denn ich bedarf deiner, und dieses ist das letzte und bedeutsamste Mal. Eilathen darnae! Sien rabanna, den viroth bannion damae!« Und als sie diese Worte aussprach, ging die Blume in ihrer Hand in Flammen auf, blaugrün und rot wie die Farben der Blüte, und sie warf sie in den See hinaus.
    Kim spürte, wie der Wind erstarb. Neben ihr wirkte Ysanne wie aus Marmor gehauen, so unbeweglich stand sie da. Die Nacht selbst schien in diese Reglosigkeit mit einbezogen. Kein Geräusch, keine Bewegung, und Kim spürte das heftige Pochen ihres Herzens. Die Oberfläche des Sees lag spiegelglatt im Mondlicht da, aber es war keine friedliche Ruhe. Eher glich sie gespannter Erwartung. Kim fühlte, wie im Pulsieren ihres eigenen Blutes, ein Vibrieren, als werde eine Stimmgabel angeschlagen, deren Ton knapp über dem Wahrnehmungsbereich menschlicher Ohren lag.
    Und dann entstand plötzlich heftige Bewegung in der Mitte des Sees. Eine wirbelnde Gestalt, die sich schneller drehte, als das Auge folgen konnte, erhob sich über die Wasseroberfläche, und Kim sah, dass sie im Mondlicht blaugrün schimmerte.
    Ungläubig beobachtete sie, wie das Wesen näher kam, und dabei wurde die Drehbewegung immer langsamer, so dass Kim, als es schließlich in der Luft über dem Wasser schwebend zur Ruhe kam, darin die Gestalt eines hochgewachsenen Mannes erkennen konnte.
    Langes, seegrünes Haar spielte um seine Schultern, und seine Augen waren kalt und klar wie Splitter winterlichen Eises. Sein nackter Körper war schlank und geschmeidig, und er schimmerte glitzernd im Widerschein des Mondes, als sei er mit Schuppen bedeckt. An der Hand trug er einen Ring, der im Dunkeln wie eine Wunde aufflammte, rot wie das Herzstück der Blume, die ihn herbeigerufen hatte.
    »Wer ruft mich gegen meinen Willen aus der Tiefe empor?« Die Stimme klang eisig, eisig wie nächtliche Gewässer, ehe der Frühling einsetzt, und es lag etwas Gefährliches in ihr.
    »Eilathen, es ist die Träumerin. Ich

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