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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Erinnerungen, die sie mit stärkerer Sehnsucht erfüllten als irgendeiner der Männer, die vor dem Thron ihres Vaters kniend um ihre Hand angehalten hatten mit dem rituellen Satz: »Die Sonne geht auf in den Augen Eurer Tochter.« Sie war noch sehr jung, ungeachtet ihrer stolzen Haltung.
    Und all diese Gründe mochten dafür ausschlaggebend gewesen sein, der letzte am allermeisten, dass sie die Briefe geheim hielt, die in ihrem Zimmer aufzutauchen begannen – wie, das wusste sie nicht; und sie verbarg auch tief in ihrem Innern den Verdacht, brennend wie eine Liena im nächtlichen Garten, wer diese Briefe geschickt haben mochte.
    Von Verlangen sprachen sie und priesen ihre Schönheit mit Worten, die feuriger waren als alle, die sie je vernommen hatte.
    Eine hell klingende Sehnsucht lag in diesen Zeilen, und sie erweckte in ihrer Brust, die sie eine Gefangene war an diesem Ort, über den sie eines Tages herrschen würde, eigene Sehnsüchte: Am häufigsten sehnte sie sich nach dem einfachen Ablauf vergangener Vormittage, die solch seltsamen Gefühle noch nicht gekannt hatten, aber manchmal, wenn sie des Nachts allein war, erfüllte sie ein anderes Verlangen. Denn die Briefe wurden mit der Zeit immer kühner, und aus den Schilderungen des Verlangens wurden Versprechungen, was Hände und Lippen vollbringen möchten.
    Doch es fehlte die Unterschrift. Vortrefflich formuliert, elegant geschrieben zeugten sie von einer edlen Hand, aber nie fand sich an ihrem Ende ein Name. Bis der letzte Brief eintraf, als der Frühling ganz Larai Rigal mit Calathblüten und Anemonen überzog. Und der Name, den sie las, ließ das, was sie schon lange vermutet und in ihrem Herzen wie einen Schatz bewahrt hatte, zur festen Gewissheit werden. Ich weiß etwas, was ihr nicht wisst, das war der Vers, der sie mit Leichtigkeit, sogar mit Freude Vormittage im Empfangssaal überstehen ließ, ebenso nachmittägliche Spaziergänge unter strenger Aufsicht mit dem einen oder anderen Freier, entlang der gewundenen Pfade über die gewölbten Brücken der Gärten. Erst des Nachts, wenn ihre Hofdamen endlich gegangen waren, ihr schwarzes Haar frisch gebürstet war und offen herabwallte, konnte sie es wagen, jenen letzten Brief aus seinem Versteck zu holen und noch einmal bei Kerzenlicht zu lesen:
     
    Strahlendste,
    ich ertrage es nicht länger. Die Sterne selbst sprechen zu mir schon von Dir, und der Nachtwind ruft Deinen Namen. Ich muss zu Dir kommen. Der Tod ist eine Finsternis, die ich nicht suche, doch müsste ich in seine Tiefen hinabsteigen, um die Blume Deines Leibes zu berühren, es bliebe mir keine Wahl. Sollten die Soldaten Cathals meinem Leben ein Ende bereiten, versprich nur, dass es Deine Hände sein werden, die meine Augen schließen, und vielleicht gar – ich weiß, ich verlange zuviel – Deine Lippen, die meine erkalteten in einem letzten Gruß berühren.
    Nahe der Nordmauer von Larai Rigal steht ein Lyrenbaum. Zehn Nächte nach Vollmond wird es bei Mondaufgang noch hell genug sein, dass wir uns finden.
    Ich werde dort sein. Du hältst mein Leben in Deinen Händen, ein unbedeutendes Ding.
     
    Diarmuid dan Ailell
     
    Es war schon sehr spät. Am früheren Abend hatte es geregnet, so dass der Duft der Elphinel unter ihrem Fenster sich entfaltete, aber nun waren die Wolken gewandert, und der abnehmende Mond schien in ihr Zimmer. Sanft berührte sein Licht ihr Gesicht und glänzte auf ihrem dicht gewellten Haar.
    Die Nacht des Vollmonds lag neun Tage zurück. Und das hieß, dass er irgendwo den Saeren überquert hatte und sich jetzt irgendwo im Dunkel des Landes versteckt hielt, und morgen …
    Sharra, die Tochter Shalhassans, nahm in dem Bett, in welchem sie ganz für sich alleine lag, einen tiefen Atemzug, dann legte sie den Brief wieder in sein Versteck zurück. An jenem Abend träumte sie nicht von ihrer Kindheit und ihren Spielen, als sie endlich einschlief und sich die ganze Nacht hin und her wälzte, das offene Haar auf den Kissen ausgebreitet.
     
    Venassar von Gath war so jung und schüchtern, dass sich bei ihr Beschützergefühle einstellten. Als sie am nächsten Morgen gemeinsam den Rundpfad entlang gingen, bestritt sie zum größten Teil die Unterhaltung. In gelbem Wams und gelben Beinkleidern, deutliche Verlegenheit auf dem langen Gesicht, hörte er ihr angestrengt zu, kam ihr beängstigend nahe, während sie die Namen der Blumen und Bäume nannte, an denen sie vorbeikamen, und ihm die Geschichte von T’Varen und der Erschaffung

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