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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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einsamen Falken vor ihrem inneren Auge verschwand wie vom Wind davongetragen. Es war die Thronerbin von Cathal, kundig ihrer Pflichten und Verpflichtungen, die über die leicht erreichbaren Äste des Baums vor ihrem Balkon hinabstieg, wobei sie darauf achtete, dass ihr Rock nicht zu Schaden kam.
    Die Lienae huschten glühend in der Dunkelheit umher. Sie war umgeben von den schweren nächtlichen Düften der Blüten. Mit sicheren Schritten ging sie unter dem Sternenlicht und dem Leuchten der Mondsichel dahin, denn so groß die ummauerten Gärten auch sein mochten, so waren sie doch ihre ureigene Heimat, und sie kannte jeden Meter sämtlicher Pfade. Ein nächtlicher Spaziergang wie dieser gehörte jedoch zu den Vergnügungen der Vergangenheit, und sie würde schwer bestraft werden, falls man sie entdeckte. Und ihre Bediensteten würde man auspeitschen.
    Aber das war nicht von Bedeutung. Man würde sie nicht entdecken. Die Palastwachen mit ihren Laternen patrouillierten im äußeren Umkreis der Mauern. Die Gärten waren eine vollkommen andere Welt. Dort, wo sie entlangging, kam das einzige Licht von Mond und Sternen, und von den umherschwebenden Lienae. Sie hörte das leise Zirpen von Insekten und das Plätschern der künstlichen Wasserspiele. Ein sanfter Windhauch bewegte die Blätter, und irgendwo in diesen Gartenanlagen bewegte sich jetzt auch ein Mann, der ihr geschrieben hatte, was Hände und Lippen vermochten.
    Bei diesem Gedanken verlangsamte sie etwas ihre Schritte, während sie die vierte Brücke überquerte, die Ravelle, und dem sanften Murmeln des gebändigten Wassers über farbigen Steinen lauschte. Sie erkannte, dass niemand wusste, wo sie sich befand. Und bis auf nicht besonders ermutigende Gerüchte wusste sie nichts über den Mann, der dort im Dunkeln auf sie wartete.
    Aber es mangelte ihr nicht an Mut, mochte ihr Unterfangen auch töricht und unklug sein. In Azur und Gold gekleidet, mit einem Lapislazuli-Anhänger an einer Kette zwischen ihren Brüsten, schritt Sharra über die Brücke, vorbei an der Biegung des Pfades, und erblickte den Lyrenbaum. Es war niemand da.
    Sie hatte keinen Augenblick gezweifelt, dass er dort ihrer harren würde – was bei den Gefahren, die an seinem Weg lauerten, absurd war. Ein vernarrter Romantiker mochte zwar einen ihrer Diener bestechen, seine Briefe zu überbringen, mochte auch ein unmögliches Stelldichein vereinbaren, aber ein Prinz von Brennin, seit der Verbannung seines Bruders gar der Thronerbe, würde niemals für ein derart närrisches Unterfangen sein Leben aufs Spiel setzen, noch dazu für eine Frau, die er nie gesehen hatte.
    Traurig und ob dieses Gefühls wütend auf sich selbst, tat sie die letzten Schritte unter die goldenen Äste des Lyren. Ihre langen Finger, nach Jahren des Missbrauchs nun endlich mit zarter Haut, streichelten über die Rinde des Baumstamms.
    »Wenn Ihr keinen Rock tragen würdet, könntet Ihr mir hier oben Gesellschaft leisten, aber ich nehme nicht an, dass eine Prinzessin überhaupt auf Bäume klettern kann. Soll ich herunterkommen?« Die Stimme kam von direkt über ihr. Sie vermied jede plötzliche Bewegung und weigerte sich, hinaufzublicken.
    »Ich bin auf jeden Baum in diesen Gärten geklettert, der sich ersteigen lässt«, entgegnete sie mit klopfendem Herzen, »auch auf diesen. Und das oft in Röcken. Ich habe nicht vor, so etwas jetzt zu tun. Wenn Ihr Diarmuid von Brennin seid, dann kommt herunter.«
    »Und wenn ich es nicht bin?« Sein Tonfall war viel zu spöttisch für einen angeblich betörten Liebhaber, dachte sie, und gab ihm keine Antwort. Die er auch nicht abwartete. Sie hörte ein Rascheln im Laub über sich, dann einen dumpfen Aufprall neben sich am Boden.
    Und dann griffen zwei Hände wie selbstverständlich nach einer der ihren und führten sie nicht an die Stirn, sondern an seine Lippen. Das war ganz in Ordnung, obwohl er dabei hätte knien sollen. Nicht in Ordnung war, dass er sie umdrehte und Handfläche sowie Gelenke küsste.
    Eilig entzog sie sich ihm, wobei sie sich ihres heftig pochenden Herzens bewusst war. Sie hatte ihn immer noch nicht deutlich zu sehen bekommen.
    Als lese er ihre Gedanken, trat er aus den Schatten hervor dorthin, wo das Mondlicht sich in seinem hellen, zerzausten Haar fing. Und nun fiel er tatsächlich vor ihr auf die Knie – ließ das Licht wie eine Segnung auf sein Gesicht fallen.
    Und so erblickte sie ihn endlich. Seine weit auseinander liegenden tiefen Augen waren sehr blau, unter

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