Silbermantel
Mörnirwaldes war mehr als die Summe all dieser Umstände. Im grellen Tageslicht nackt mit ihm verbunden, spürte Paul an sämtlichen Körperflächen die uralte Rinde, und in jener Berührung teilte sich ihm eine Kraft mit, die sich zu eigen machte, was er an Kraft besaß. Der Baum war nicht darauf aus, ihn zu brechen; statt dessen wurde deutlich, dass er sich vortastete, Paul in sich hineinzog, ihm alles nahm. Anspruch auf ihn erhob. Irgendwie war ihm auch klar, dass dies erst der Anfang war, noch nicht einmal die zweite Nacht. Der Baum war kaum richtig erwacht.
Doch der Gott würde bald da sein. Paul konnte die langsame Annäherung auf seiner Haut spüren, im Fluss seines Blutes, und nun erklang auch Donner. Leise noch und gedämpft, doch es lagen zwei ganze Nächte vor ihm, und in seiner Umgebung vibrierte der Götterwald lautlos, wie er es seit vielen Jahren nicht getan hatte, und wartete, wartete auf die Ankunft des Gottes, darauf, dass er Anspruch erhob auf sein Eigentum, in ewiger Finsternis, wie es ihm zustand.
*
Der freundliche Wirt des Schwarzen Keilers befand sich in einer Stimmung, welche versprach, den Ruf, den er in der Öffentlichkeit besaß, gänzlich zunichte zu machen. Unter den gegebenen Umständen war es allerdings auch nicht allzu überraschend, dass sein Antlitz einen eindeutig grimmigen Ausdruck annahm, als er seinen Schankraum im Lichte des Morgens erblickte.
Derzeit wurden Festlichkeiten abgehalten. Aus Anlass von Festlichkeiten wurde getrunken. Besucher hielten sich in der Stadt auf, Besucher, deren Kehlen von der Dürre ausgetrocknet waren und die für diese Gelegenheit ein wenig Geld gespart hatten. Geld, das ihm gehören könnte, bei allen Göttern – ihm gehören müsste, wäre er nicht gezwungen, den Schwarzen Keiler an diesem Tag zu schließen, um den Schaden der vergangenen Nacht zu beseitigen.
Er trieb sie den ganzen Tag zu harter Arbeit an, selbst jene, die sich bei der Prügelei Knochen gebrochen oder die Schädel eingerannt hatten, und er hegte ganz gewiss keinerlei Sympathien für jene unter seinen Angestellten, die einen Kater oder zu wenig Schlaf zu beklagen hatten. Solange er das Wirthaus geschlossen hielt, kostete jeder Moment ihn bares Geld! Und seine Übellaunigkeit wurde dadurch noch verstärkt, dass ein ganz und gar scheußliches Gerücht durch die Hauptstadt ging, wonach Gorlaes, der blutige Kanzler, sämtliche Arten von Flüssigkeiten per Gesetz zu rationieren gedachte, sobald die vierzehntägigen Festlichkeiten vorüber waren. Diese verfluchte Dürre. Er nahm einen Schutthaufen in einem Winkel des Schankraums in Angriff, als wolle er dem Kanzler höchstpersönlich zu nahe treten. Rationierung, so etwas! Zu gerne wollte er sehen, wie Gorlaes Tegids Wein und Bier rationierte, zu gerne wollte er zusehen, wie er es versuchte! Wahrhaftig, der Dicke hatte am vergangenen Abend leicht eine Wochenration Bier über sein Hinterteil gegossen.
Die Erinnerung rief beim Wirt des Schwarzen Keilers ungewollt das erste Lächeln dieses Tages hervor, für ihn fast schon eine Erleichterung. Es war Schwerarbeit, wütend zu sein. Als er sich, die Hände in die Seiten gestemmt, im Raum umsah, entschied er, dass sie etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang wieder aufmachen konnten; der Tag würde nicht ganz verloren sein.
Und so kam es, dass ein gewichtiger Schatten, sobald tiefe Dunkelheit die gewundenen Gassen der alten Stadt einhüllte und Fackeln und Kerzen hinter geschlossenen Vorhängen brannten, mit schweren Schritten den erst vor kurzem wieder eröffneten Pforten seiner bevorzugten Schenke entgegeneilte.
Allerdings war es in den engen Durchgängen recht finster, und er war von den Nachwirkungen seiner Auseinandersetzungen des vergangenen Abends leicht behindert, daher wäre Tegid beinahe gestürzt, als er in einer der Gassen mit einer schmächtigen Gestalt zusammenstieß.
»Bei den Hörnern Cernans!« stieß der Gewaltige hervor. »Achte deiner Wege. Nur wenige halten Tegid auf, ohne dabei ihr Leben zu riskieren!«
»Verzeiht«, murmelte der Elende, der ihm im Wege gestanden hatte, und das so leise, dass er kaum zu verstehen war. »Ich fürchte, ich bin in einiger Verlegenheit, und ich …«
Die Gestalt schwankte, und Tegid streckte instinktiv eine stützende Hand aus. Dann hatten seine blutunterlaufenen Augen sich endlich an die Schatten gewöhnt, und er wurde, nicht ohne einen alles durchdringenden Schauer der Ehrfurcht, des Sprechers ansichtig.
»O Mörnir«, raunte Tegid
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